Freiwilliger Austritt
Der häufigste Weg aus der Sekte ist entgegen der landläufigen Meinung derjenige des freiwilligen Austritts. Wenn sich die Hoffnungen, die in die Sekte gesetzt wurden, nicht erfüllen, der Stress in der Sekte zu gross wird oder Sekte und Lebensbedürfnisse zunehmend weniger zueinander passen, kann ein Sektenaustritt erfolgen. Zwar wird die Sekte einiges daran setzen, das Mitglied wieder von der Richtigkeit der Mitgliedschaft zu überzeugen. Aber niemand, der sich nicht mehr überzeugen lässt, wird von der Sekte mit Gewalt zurückgehalten. Meist, gerade bei langjähriger Mitgliedschaft, erfolgt der Austritt lange nachdem der Glaube an die Sektenlehre erschüttert war. Das eigentlich Schwierige am Austritt ist der "Wiedereintritt" in die "Welt draussen". Der Austritt fällt umso leichter, je kürzer die Sektenmitgliedschaft dauerte und je stärker das soziale Netz "draussen" noch ist.
Ausschluss
Sekten sind Ueberzeugungsgemeinschaften, die von ihrer Einheitlichkeit leben. Alle Sektenmitglieder müssen die entscheidenden Glaubenssätze teilen und sich zumindest scheinbar an die Regeln halten. Wer Zweifel sät und/oder Regeln bricht, muss entweder diszipliniert werden, oder er ist, wenn dies nicht mehr fruchtet, auszuschliessen, denn Zweifelnde und Regelübertreter wirken wie faule Aepfel. Sie stecken andere an. Bei manchen Gemeinschaften ist der Ausschluss der häufigste Weg aus der Sekte heraus. Da zum Ausgeschlossenen meist jeder Kontakt verboten ist, verliert er nicht nur seine vermeintliche Erlösung, sondern auch sein soziales Netz. Der Ausschluss schreckt deshalb ab. Auch der Ausgeschlossene ist dringend auf ein soziales Netz ausserhalb der Sekte angewiesen.
Deprogramming
In den Achtziger- und Neunzigerjahren wurden von begüterten Eltern junger Mitglieder radikalerer Sekten mitunter sog. Deprogrammierer angeheuert, die das Sektenmitglied entführten, einschlossen und unter Anwendung kritischer Information zu der Sekte von ihrer "Programmierung" zu "deprogrammieren" suchten. Deprogramming war in rund zwei Drittel der Fälle erfolgreich, aber ist in einem Rechtsstaat als Freiheitsberaubung illegal (aus den USA sind Auswüchse des Deprogrammings bekannt geworden, vgl. die Deprogrammierung eines Kindes von Mormonen, das in ein katholisches Kloster eintrat). Kosten in sechsstelliger Höhe erwachsen wegen des Risikos für die Deprogrammierer.
Befreiungsgespräch ohne Zwang
Aufgrund der unbefriedigenden Situation mit dem Deprogramming entwickelte der amerikanische Sektenexperte Steven Hassan in den Achzigerjahren eine Methode der Intervention, die mit dem Einverständnis des betreffenden Sektenmitglieds arbeitet. Die Erfolgsquote ist ähnlich, das Befreiungsgespräch ohne Zwang aber weit kostengünstiger.
Grenzen der Intervention
Interventionen taugen bloss bei Gemeinschaften, die mit Täuschung arbeiten und/oder eine dunkle Seite zu verbergen haben, da die Intervention darin besteht, dem Mitglied Zusammenhänge aufzuzeigen, die ihm bisher nicht bekannt waren. "Ehrliche" Gemeinschaften, die sich dem Mitglied im Wesentlichen so präsentieren, wie sie sind, und nicht übermässig viele Leichen im Keller haben, geben keinen Spielraum für eine Intervention. Es bleibt bloss der Weg der Geduld.
Verhalten gegenüber Sektenmitgliedern
Die Reaktion der Angehörigen auf eine Sektenmitgliedschaft kann auch ohne Intervention auf die Sektenkarriere durchaus einen Einfluss haben. Ist das werdende Mitglied noch unsicher, ob es der Sekte beitreten soll, kann die Abgabe kritischer Information zur Gemeinschaft hilfreich sein. Ist der Beitritt hingegen schon erfolgt und das Mitglied in der Rosa-Wolken-Phase, taugt kritische Information soviel, wie einem verliebten Menschen seinen Partner ausreden zu wollen. Sie ist erst dann wieder gefragt, wenn von Seiten des Mitglieds Zweifel geäussert werden.
Die grundlegende Regel im Umgang mit Sektenmitgliedern lautet:
In Kontakt bleiben!
Da die Wahrscheinlichkeit des Austritts (resp. die Inkaufnahme eines allfälligen Ausschlusses) direkt mit der Stärke des sozialen Netzes ausserhalb der Sekte verbunden ist, kann die Bedeutung des Kontakterhalts nicht hoch genug eingeschätzt werden. Diesem Ziel ist alles andere unterzuordnen. So macht es keinen Sinn, dauernd die Sektenlehre diskutieren zu wollen. Dies führt höchstens zum Kontaktabbruch durch das Sektenmitglied. Ein öffentlicher Kampf gegen die Sekte, der ebenfalls meist zum Kontaktabbruch durch das Sektenmitglied führt, ist in dieser Phase nicht Aufgabe direkter Angehöriger, sondern spezialisierter Stellen und Gruppen (er kann aber dann sinnvoll sein, wenn der Kontaktabbruch bereits erfolgt ist, als Motivation zur Wiederaufnahme des Kontakts).
Weiters ist zu bedenken, dass der Sektenbeitritt aus einer Krisensituation heraus erfolgte. Wenn es möglich ist, sind dem Sektenmitglied Wege zu zeigen, wie es sein Defizit ohne die Gruppe decken kann.
Wenn die Sektenmitgliedschaft mit einer Ablösungsproblematik verbunden ist, ist es wichtig, dem Mitglied klar zu machen, dass der Anteil der Geschichte, der Ablösung und Suche nach einem eigenen Weg bedeutet, durchaus akzeptiert wird. Das Mitglied muss wissen, dass ein Austritt aus der Sekte einem Eintritt in ein neues, selbstständiges Leben gleichkommt, nicht den Wiedereintritt in das als unselbstständig erlebte alte Leben bedeutet.
2006-10-02 09:48:34
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answer #8
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answered by Diopsid 6
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