hier kommt die passenden antwort:
freud hat sich sehr oft gefreut
und jung war juenger.
hier die intellektuelle erklaerung fuer dich !!!
Von Freud zu Jung
Freud überwindet das positivistische Seelenmodell
{343} Der Neurologe Sigmund Freud (1856-1939) entdeckte mit dem menschlichen Unbewussten bisher wissenschaftlich noch unbeackertes Neuland. Mit der Entdeckung des Unbewussten als eines Forschungsgebietes der modernen Wissenschaft begründete er vor hundert Jahren eine neue wissenschaftliche Disziplin, die Tiefenpsychologie - eine pionierhafte Leistung. Freud hat das positivistische Modell der Psyche seiner Zeit überwunden, das auf der Ansicht basierte, das menschliche Seelenleben bestehe im Prinzip aus dem, was einem Menschen bewusst sei. „Träume sind Schäume“: Dieses Schlagwort zeigt, was in der Sicht des Positivismus vom Unbewussten zu halten war. Freud war in seiner Ausbildung zum Mediziner positivistisch geprägt worden, lernte aber, die Seele neu zu verstehen.
{344} Der durch Freud erzielte Fortschritt bei der wissenschaftlichen Erforschung der menschlichen Seele wird in einem Schema von Willy Obrist anschaulich (Abb. 8).
{345} In der Vorstellung des Positivismus, der zu Freuds Zeit in den Kreisen der Wissenschaftler vorherrschte, bestand das seelische Leben eines Menschen ausschlieÃlich in dem, was dieser bewusst erleben konnte. Der Rest wurde nicht mehr der Seele zugerechnet, das Triebgeschehen zum Beispiel wurde im positivistischen Verständnis der Psyche rein mechanistisch als ein physikalisch-chemischbiologisch verlaufender Prozess betrachtet. Instinktive Abläufe hatten nichts mit Geist, Intelligenz und Seele zu tun. Das Unbewusste wurde also nicht zur Seele gerechnet, es enthielt nur geistlose, stumpfe, reflexhafte und mechanische Triebe und Instinkte. Diese unbewussten Tätigkeiten wurden gegenüber den Leistungen des menschlichen Intellekts, also der bewussten geistigen Tätigkeit, als minderwertig beurteilt. Daraus folgte etwa, dass Tiere keine Seele haben konnten, weil sie allein von inneren Mechanismen durch das Leben getrieben wurden.
{346} Freud hat den Nachweis erbracht, dass die positivistische Theorie von der Seele des Menschen nicht richtig ist, weil das bewusste und das unbewusste Seelenleben des Menschen eng ineinander verwoben sind und das Bewusstsein des Menschen weitgehend von der unbewussten Tätigkeit der Seele bestimmt wird. Welche Kränkung für die „Krone der Schöpfung“! Die Zeit- und Zunftgenossen Freuds lieÃen ihn oft schmerzlich spüren, dass sie seine neuen Theorien nicht akzeptieren wollten.
Abb. 8 Das positivistische und das Freudsche Modell der menschlichen Psyche (L. 23, S. 104)
{347} Dass es ein unbewusstes Seelenleben gebe, das wir Menschen mit allen übrigen Kreaturen teilen, und dass darin gar ein unbewusster Geist und damit eine unserem Bewusstsein weit überlegene unbewusste Intelligenz am Werk sei, war nach der positivistisch-materialistisch-atheistischen Theorie undenkbar. Denn - wie schon gesagt - Geist besaà nur der Mensch; geistvoll war nur die bewusste geistige Tätigkeit des Menschen. Alles andere im Universum war Mechanik, der menschliche Geist aber war letztlich Zufallsprodukt einer blind verlaufenden Evolution. Mit dem empirischen Nachweis, dass der Mensch ein unbewusstes Seelenleben hat, überholte Freud das positivistische Modell der Seele.
{348} Dass seine neue Theorie grundsätzlich richtig sein musste, bewiesen Freuds praktische Erfolge in der Psychotherapie. Freud war kein Schreibtischgelehrter, sondern ein praktischer Arzt und ein menschlich engagierter, echter Seelsorger. Er mobilisierte die moderne Wissenschaft, um der menschlichen Seele in Nöten effizient, engagiert und qualifiziert helfen zu können.
Die Struktur des Unbewussten: Es und Ãber-Ich
{349} Freud machte in seiner psychoanalytischen Praxis immer wieder die Erfahrung, dass es in der unbewussten Psyche seiner Patienten so genannte „gefühlsgeladene Komplexe“ gab, welche das bewusste Leben störten. Vereinfacht gesagt, gliederte er das Unbewusste in zwei Bereiche: in das Es und das Ãber-Ich (dieses war nur teilweise unbewusst), in denen er die störenden Komplexe ansiedelte. Durch eine Psychoanalyse wurden die beiden Bereiche des Es und des Ãber-Ichs bewusst gemacht und die darin hausenden Komplexe soweit wie möglich aufgelöst.
{350} Im unbewussten Teil des Ãber-Ichs siedelte Freud unbewusst gewordene Verhaltensregeln an, die einem in der Erziehung einst beigebracht worden waren und die dann automatisch, ohne Hilfe des Bewusstseins, weiter funktionierten: „Du sollst“, „Das tut man nicht“ etc. Davon, was ein Mensch im Laufe seiner Erziehung internalisierte, ist im Erwachsenenleben bekanntlich längst nicht mehr alles bewusst. Das Ãber-Ich gehörte für Freud zu unserer Kulturseite. Dem Es hingegen ordnete Freud die unbewussten Triebwünsche zu, die uns mit dem Tierreich verbinden; das Es war für ihn unsere Naturseite.
{351} Nun wird vieles von dem, was das Es wünscht, vom Ãber-Ich verboten; denn die Kultur beziehungsweise die Gesellschaft erlaubt vieles nicht, was die Natur möchte. Häufig realisiert das Ich diesen inneren Gegensatz nicht. Daraus resultieren Spannungen im unbewussten Bereich der Psyche, welche das Ich dumpf als „ein ungutes Gefühl“ wahrnehmen kann. Die innere unbewusste Spannung wird oft zusätzlich dadurch verstärkt, dass nicht klar ist, was die Umwelt erwartet, erlaubt oder verbietet. Dadurch wird dem Ich die Entscheidung weiter erschwert. Es ist dem Ich oft nicht möglich, es allen drei Seiten recht zu machen: der Umwelt, dem Es und dem Ãber-Ich. Diese Unsicherheit ist schwer zu ertragen.
{352} In Freuds „Neuer Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ (L 4, Bd. XV, S. 84 f. ) findet sich ein Text, in welchem die Beziehung zwischen dem Ich, seiner äuÃeren Umwelt, dem Es und dem Ãber-Ich meisterhaft geschildert wird:
{353} „Ein Sprichwort warnt davor, gleichzeitig zwei Herren zu dienen. Das arme Ich hat es noch schwerer; es dient drei gestrengen Herren, ist bemüht, deren Ansprüche und Forderungen in Einklang miteinander zu bringen. Diese Ansprüche gehen immer auseinander und scheinen oft unvereinbar zu sein. Kein Wunder, wenn das Ich so oft an seiner Aufgabe scheitert. Die drei Zwingherren sind: Die AuÃenwelt, das Ãber-Ich und das Es. . . . [Das Ich] fühlt sich von drei Seiten her eingeengt, von dreierlei Gefahren bedroht, auf die es im Falle der Bedrängnis mit Angstentwicklung reagiert. . . . [Es ist] dazu bestimmt, die Anforderungen der AuÃenwelt zu vertreten; aber es will auch der getreue Diener des Es sein, im Einvernehmen mit ihm bleiben, sich ihm als Objekt empfehlen, seine Libido auf sich ziehen. In seinem Vermittlungsbestreben zwischen Es und Realität ist es oft genötigt, . . . die Konflikte des Es mit der Realität zu vertuschen . . . Andererseits wird es auf Schritt und Tritt von dem gestrengen Ãber-Ich beobachtet, das ihm bestimmte Normen seines Verhaltens vorhält, ohne Rücksicht auf die Schwierigkeiten vonseiten des Es und der AuÃenwelt zu nehmen, und es im Falle der Nichteinhaltung mit den Spannungsgefühlen der Minderwertigkeit und des Schuldbewusstseins bestraft. So vom Es getrieben, vom Ãber-Ich eingeengt, von der Realität zurück gestoÃen, ringt das Ich um die Bewältigung seiner ökonomischen Aufgabe, die Harmonie unter den Kräften und Einflüssen herzustellen, die in ihm und auf es wirken, und wir verstehen, warum wir so oft den Ausruf nicht unterdrücken können: Das Leben ist nicht leicht! Wenn das Ich seine Schwäche bekennen muss, bricht es in Angst aus, Realangst vor der AuÃenwelt, Gewissensangst vor dem Ãber-Ich, neurotische Angst vor der Stärke der Leidenschaften im Es. “
Das neue Forschungsgebiet und die Religion
{354} Die Tiefenpsychologie beginnt heute, unsere Zeit spürbar zu beeinflussen; der Zenit ihres Einflusses dürfte noch längst nicht erreicht sein. Das Lebensgefühl des Menschen an der Schwelle zum dritten Jahrtausend wird nicht nur durch die Technik, sondern zunehmend auch durch die Entdeckungen der Tiefenpsychologie geprägt - man denke nur etwa an die augenfällige Veränderung unserer Einstellung gegenüber dem Leib und der Sexualität in diesem Jahrhundert oder an das tiefenpsychologische Vokabular, das im 20. Jahrhundert Allgemeingut geworden ist, zum Beispiel: Ich, Es, Bewusstsein, Unbewusstes, Komplex, Projektion, Verdrängung, Neurose, Psychotherapie, Lustprinzip, Aggressionshemmung, Schuldgefühl, Ãber-Ich, freudsche Versprecher, unbewusste Fehlhandlungen, verminderte Zurechnungsfähigkeit etc. Das sind nur einige wenige von vielen psychologischen Begriffen, welche das Denken und Handeln heutiger Menschen in zunehmendem MaÃe beeinflussen. Tiefenpsychologische Gesichtspunkte werden viel häufiger als noch vor fünfzig Jahren verwendet. Allmählich wird bekannt, dass wir Menschen ein artspezifisches unbewusstes Seelenleben haben, das uns teilweise mit den Tieren verbindet und uns viel stärker beeinflusst, als wir dies normalerweise wahrnehmen.
{355} In diesem Zusammenhang lässt sich eine gegenläufige Bewegung beobachten: Mit dem zunehmenden Einfluss der Tiefenpsychologie schwindet der Einfluss der traditionellen religiösen Institutionen. Diese augenfällige Gegenläufigkeit dürfte kaum Zufall sein. Realisiert sich darin vielleicht der Wunsch Freuds, die Religion abzuschaffen und durch die wissenschaftliche Tiefenpsychologie zu ersetzen? Das könnte sehr wohl der Fall sein. Aber ein anderes Phänomen will nicht in dieses Bild passen: die neue religiöse Welle (das Aufkommen der Esoterik in den letzten fünfundzwanzig Jahren). Widerspricht diese neueste Entwicklung nicht dem, was Freud vorauszusehen glaubte, dass nämlich die Religion bald durch die Wissenschaft ersetzt werde? Hat Freud sich geirrt? Oder gibt es eine andere Erklärung für das Aufkommen der neuen Religiosität?
{356} Versuchen wir zunächst, uns - im Anschluss an Gedankengänge von Willy Obrist (L 21-24) ~ Klarheit darüber zu verschaffen, was denn nun die eigentliche Leistung Freuds darstellt. Vielleicht lässt sich dann das rätselhafte Phänomen der neuen Religiosität erklären, die trotz der Ausbreitung der Tiefenpsychologie aufgekommen ist.
{357} Ich umreiÃe Freuds bahnbrechende Leistung kurz in drei Punkten:
1. Psychotherapie als zeitgemäÃe Seelsorge
{358} Augenfällig ist die praktische Auswirkung der Tiefenpsychologie in der Psychotherapie. Diese verhilft seelisch kranken Menschen zu einem bewussten, heilsamen Kontakt mit ihrer Seele. Das Bewusstwerden seelischer Vorgänge ist an sich schon heilsam, weil dadurch das Ich mit dem Unbewussten wieder verbunden wird. Die Psychotherapie hat das Leben vieler Menschen grundlegend verändert. Sie hat weitgehend die Nachfolge der religiösen Seelsorge angetreten.
{359} Verdeutlichen wir uns das am Beispiel des erwähnten Malers Christoph Haitzmann (S. 48 f. ) mit seiner durch Freud aufgeklärten „Teufelsneurose“: Hätte Haitzmann im 17. Jahrhundert in seiner Depression von einem Psychotherapeuten des 20. Jahrhunderts behandelt werden können, hätte er weder mit seinem Blut einen Teufelspakt unterschreiben noch durch einen Exorzismus von diesem Teufelspakt wieder befreit werden müssen; das eine wie das andere magische Ritual war - wie wir heute leicht erkennen können - therapeutisch ganz einfach ineffizient. Solche archaischen Rituale waren aber einst die Heilmittel in Krankheits- und Unglücksfällen: Wo heute Viren mit Antibiotika bekämpft werden, beschworen einst Medizinmänner und Priester Dämonen, weil man dem „bösen Feind“ nicht anders zu Leibe zu rücken verstand. Haitzmann könnte heute seine Depression unter sachverständiger Begleitung, eventuell verstärkt durch Psychopharmaka, aufarbeiten. Sein Leiden lieÃe sich heute zweifellos zumindest lindern. Es würde ihm dadurch viel Leid - Höllenangst, Minderwertigkeitsgefühle, Verzweiflung und Depression mit Arbeitsunfähigkeit - erspart. Die Mittel, welche die Kirche Haitzmann einst anzubieten hatte, waren vorwissenschaftlich und unqualifiziert.
{360} Aber die Seelsorger der verschiedenen Religionen werden immer noch nicht psychotherapeutisch ausgebildet, und die magischen Rituale der Religionen stehen alle noch in Geltung. Doch die Psychotherapie als moderne, wissenschaftlich fundierte Hilfe ist für den abendländischen Menschen an der Schwelle zum dritten Jahrtausend effizienter als die alten Rituale der Kirche. Deshalb ist es verständlich, dass der Dienst der Seelsorge heute immer weniger von Seelsorgern der religiösen Institutionen und immer mehr von Psychotherapeuten wahrgenommen wird. Die Ausbildung der Priester und Pfarrer(innen) für die Seelsorge ist - obwohl sie ein bisschen verbessert wurde - immer noch ungenügend.
{361} 2. Ein neues Verständnis für innere Erfahrungen So wie die modernen Naturwissenschaften vor Freud das Bewusstsein des Menschen über die äuÃere Natur erweitert und dadurch die Entwicklung der modernen Technik ermöglicht hatten, so erweiterte die neue Wissenschaft der Tiefenpsychologie die Kenntnisse des Menschen über seine inneren Erfahrungen, seine Seele. Freud holte die ins All hinausprojizierte unbewusste Seele ins menschliche Innenleben zurück. Er drang mit der modernen Wissenschaft in die Tiefe der Seele des Menschen vor, indem er den Informationsfluss zwischen dem Unbewussten und dem Bewussten, der sich in Träumen, Visionen, Fantasien, Fehlleistungen sowie psychosomatischen Symptomen manifestierte, unter die Lupe der Wissenschaft nahm. Im Jahre 1900 veröffentlichte Freud seinen groÃen schöpferischen Wurf: Die Traumdeutung, dessen erster Satz lautete: „Auf den folgenden Blättern werde ich den Nachweis erbringen, dass es eine psychologische Technik gibt, welche gestattet, Träume zu deuten, und dass bei Anwendung dieses Verfahrens jeder Traum sich als ein sinnvolles psychisches Gebilde herausstellt . . . “ (L 4, Bd. II/III).
{362} Freud hat mit der wissenschaftlich qualifizierten Beobachtung des inneren Informationsflusses vom Unbewussten zum Ich eine neue wissenschaftliche Disziplin eröffnet, die dem Menschen Kenntnisse über sein Seelenleben und Möglichkeiten zur Behebung von seelischen Störungen eröffneten. Die erstmals wissenschaftliche Bearbeitung des Informationsflusses zwischen dem Unbewussten und dem Bewusstsein ist die eigentliche Pionierleistung Freuds. So wie Galilei seinerzeit mit seinem selbst erbauten Fernrohr Sonnenflecken wahrzunehmen vermochte, die man vor ihm nicht sehen konnte, so verschaffte Freud den Menschen durch die Anwendung seiner neuen wissenschaftlichen Methode auf dem Gebiet der inneren Wahrnehmung einen ganz neuartigen Zugang zum Unbewussten. Freud heilte durch die Aufklärung über Prozesse im unbewussten Teil der Persönlichkeit. Er erweiterte also das Bewusstsein seiner Patienten und weckte in ihnen das Verständnis für Vorgänge in ihrer Seele. Freud lieà seine Klienten in entspanntem Zustand auf der Couch frei zu ihren Traumbildern assoziieren. Dadurch brachte er sie in einen meditativen Zustand. In diesem gelösten und gelockerten, leicht dämmerigen, aber doch immer noch bewussten Zustand konnte das bewusste Ich das unbewusste Seelenleben wahrnehmen. Das Bewusstsein über unbewusste Vorgänge nahm zu, und dadurch konnte der seelische Zustand oft stabilisiert werden.
3. Revierkampf um die Seele
{363} Freud drang mit seinen Forschungen in ein Gebiet ein, das bisher die Domäne der Religion gewesen war. Er entriss dieser die Seele und damit das Fundament, über dem sie ihre Tempel errichtet hatte. Daraus ergab sich eine Konkurrenzsituation. Freud machte der Religion den Vorwurf, sie gehe unwissenschaftlich und inkompetent mit der menschlichen Seele um. Er reklamierte das Gebiet der menschlichen Seele für die Wissenschaft. Für Freud war die Metaphysik erledigt, ein unzeitgemäÃer Tummelplatz archaischer Wissenschaften (der Theologie und Philosophie); denn sie beruhte auf einer Projektion unbewusster seelischer Sachverhalte ins Kosmische hinaus. Freud stürmte Himmel und Hölle und nahm dort einen Kahlschlag vor. Die Kirche hat bis heute noch kein Abwehrmittel gegen den fundamentalen Angriff Freuds gefunden. Theologen wie Pfister, Scharffenberg, Lüthi oder Drewermann, die einen ehrlichen Dialog mit Freud und der Tiefenpsychologie suchten oder suchen, blieben innerhalb der Kirchen bis heute Rufer in der Wüste.
{364} Bekanntlich löst das Eindringen eines Fremden mit Herrschaftsansprüchen Unsicherheit und Angst aus. Es geht für den bisherigen Herrscher dieses Gebietes um Sein oder Nichtsein: „Wer ist hier der Chef?“ Ein Adrenalinschub begleitet diese Frage. Das bisherige Alpha-Tier rüstet sich unverzüglich zur Verteidigung seiner Rechte und will den Eindringling zum Teufel jagen. Auf geht's in den Kampf! Freud löste einen anfänglich erbittert geführten Revierkampf aus. Zwei Hirsche kämpften um die Vorherrschaft über das Revier der menschlichen Seele. Der Kampf scheint zurzeit etwas abzuflauen. Geht ein hundertjähriger Krieg langsam zu Ende? Neulich wurde ich gebeten, in einer Kirchgemeinde einen Vortrag zum Thema „Die Bibel als Spiegel der menschlichen Seele“ zu halten. Das ist der Schimmer eines sich ankündigenden schwachen Morgenrotes nach einer langen Nacht. Eine Schwalbe allein macht aber bekanntlich noch keinen Sommer, auch vier oder fünf nicht.
Das Fazit:
{365} Wir sind nun in der Lage, die eingangs dieses Abschnittes gestellte Frage zu beantworten, ob denn der gegenwärtige Boom religiöser Angebote nicht Freuds Prognose vom baldigen Ende der Religion und deren Ablösung durch die Wissenschaft von der Seele widerlege. Ich schildere das Problem nochmals kurz: Freud zog um 1900 aus, das unbewusste Innenleben des Menschen wissenschaftlich zu entschlüsseln und damit die für ihn hoffnungslos veraltete Religion endgültig und radikal abzuschaffen. Einerseits ist ihm dies unzweifelhaft ein Stück weit gelungen: Das wissenschaftlich fundierte Wissen des Menschen über seine Seele hat in unserem Jahrhundert stark zu-, und der Einfluss der traditionellen religiösen Institutionen hat im selben Zeitraum stark abgenommen; Aufstieg und Niedergang korrespondieren. Andererseits aber kann die neue religiöse Welle nicht übersehen werden; Religiosität ist heute wieder „in“, sogar unter wissenschaftlich ausgebildeten Tiefenpsychologen, und das dürfte nach Freud ja nicht der Fall sein. Wie ist dieser scheinbare Widerspruch zu deuten?
{366} Die Antwort haben wohl bereits die alten Römer und mit ihnen sämtliche bisherigen Völker der Menschheit gegeben: „Anima humana naturaliter religiosa“ - der Mensch ist von Natur aus religiös veranlagt. Die religiöse Veranlagung des Menschen wollte Freud, als Kind seiner Zeit, aber nicht wahrhaben; denn er war als Wissenschaftler seiner Zeit Positivist und als solcher im Kampf der Wissenschaft gegen die Religion befangen. Freud identifizierte Religion mit dem archaischen Weltbild, weil die Religionen darin verhaftet blieben. Durch die Gleichsetzung von Religiosität und Gefangenheit im archaischen Weltbild schüttete Freud das Kind mit dem Bade aus.
{367} Freud lehnte zwar die Religion ab, er liebte aber zugleich die menschliche Seele, und indem er diese ins Blickfeld der Wissenschaft rückte, schenkte er ihr eine ganz neue Bedeutung. Das ist seine bleibende Leistung. Dank Freud bekam die Seele in unserem Jahrhundert ein ganz neues Gewicht. Im Zuge dieser Wertschätzung der Seele wurde im Laufe der Jahrzehnte auch die religiöse Dimension ganz neu entdeckt. Das war allerdings nicht mehr die Leistung Freuds selber, sondern insbesondere seines Schülers C. G. Jung. Jung entwickelte - auf dem Fundament von Freud - ein neues Verständnis der menschlichen Religiosität.
{368} Freuds Werk durchzieht also ein innerer Widerspruch: Er nahm die menschliche Seele ernst und wollte gleichzeitig die menschliche Religiosität abschaffen. Beides geht nicht zusammen, wie der Verlauf der Geschichte der letzten Dezennien zeigt. Freud hat zwar maÃgebend dazu beigetragen, dass die archaische Form der Religiosität zurzeit zerfällt; aber die Religiosität der menschlichen Seele an sich konnte er nicht abschaffen.
{369} Ein radikal neues Verständnis menschlicher Religiosität auf der tiefenpsychologischen Grundlage von C. G. Jung und Willy Obrist werde ich im nächsten Abschnitt entwickeln.
Jung und die menschliche Religiosität
1. Grundzüge
{370} C. G. Jung (1875-1961) war Mediziner und Psychiater; er war fast zwanzig Jahre jünger als Freud (1856-1939). Sie waren beide aus ihrem beruflichen Umfeld herausragende Männer. Im Unterschied zu Freud war C. G. Jung in einem Pfarrhaus aufgewachsen und hatte bereits als Kind verschiedene sehr eindrückliche religiöse Träume. In der Pubertätszeit hatte er unter der religiösen Impotenz seines Vaters gelitten, welcher die religiösen Fragen seines wissbegierigen Sohnes nicht befriedigend zu beantworten vermochte.
{371} Jung kannte die Religion also aus eigener Erfahrung. Er war zudem - von Mutters Seite - „medial“ veranlagt: Er hatte gegenüber dem, was sich im Unbewussten, abspielt, eine auÃergewöhnlich durchlässige Membran und war auch für parapsychische Ereignisse offen. Diese Durchlässigkeit zu seinem Unbewussten war eine ihn in besonderem MaÃe kennzeichnende Begabung. Er war ein Sensitiver, der den Informationsstrom vom Selbst zum Ich mit einer ungewöhnlichen inneren Wachheit wahrnehmen konnte und zudem das innen Erspürte in eine wissenschaftlich zeitgemäÃe Sprache zu kleiden und dadurch wissenschaftlich fruchtbar zu machen verstand. Durch seine Intuition und sein nach innen orientiertes Denken gelang es ihm auch, gewisse Entwicklungen anderer Humanwissenschaften um Jahrzehnte vorwegzunehmen.
{372} Jung und Freud war gemeinsam, dass sie, als moderne Naturwissenschaftler, das archaische Kleid der Religion ablehnten. Aber für Jung war das noch kein Grund, die menschliche Religiosität an sich über Bord zu werfen. Jung unternahm im Gegenteil den gigantischen Versuch, diese neu zur Sprache zu bringen. Dieser Versuch ist eine Parallele zu Bultmanns existentialer Interpretation. Leider kamen Jung und Bultmann nie miteinander ins Gespräch. Bultmann vermochte sich nicht vom tief sitzenden antipsychologischen Affekt der Theologie zu lösen, und für Jung war Bultmanns Entmythologisierungsprogramm der Ausdruck eines Positivismus und Rationalismus, der kein Gespür für die Mythen aufbrachte. Jung selber lebte aber in und mit Mythen. Jung wollte die Bibel darum nicht entmythisieren. Er betrachtete die Entmythologisierung als etwas Barbarisches, das der Bibel ihre ewig gültigen Bilder raube und den Menschen noch mehr entwurzle.
{373} Für Jung bildete die menschliche Psyche die Basis der menschlichen Religiosität und nicht irgendein unabhängig vom Menschen existierendes metaphysisches Jenseits. Er übernahm von Freud die Erkenntnis, dass das Jenseits der Religionen auf menschlichen Projektionen beruhe und deshalb im menschlichen Unbewussten anzusiedeln sei. Die jenseitigen Mächte waren für ihn Mächte des Unbewussten. Aber Jung wollte diese jenseitigen Mächte nicht einfach weganalysieren und in ein Nichts auflösen wie Freud. Er wollte Gott und den Teufel nicht auf die ambivalente Beziehung des Kleinkindes zu seinem eigenen Vater reduzieren. Er sah hinter dem Bild des persönlichen Vaters und der persönlichen Mutter Mächte, die unser seelisches Leben über die persönlichen Beziehungen zu den Eltern hinaus prägten. Für ihn war Freud noch zu wenig tief ins Unbewusste vorgestoÃen und auf der Entdeckungsreise in die Seele in der persönlichen, noch relativ bewusstseinsnahen Schicht des Unbewussten stehen geblieben. Jung glaubte, in eine noch tiefere Schicht, nämlich diejenige der arttypischen Bilder und angebotenen Verhaltensmuster, in das so genannte „kollektive Unbewusste“, vorgedrungen zu sein, in jene psychophysische Schicht, die in unserem Genom, unseren Erbanlagen, gespeichert ist.
{374} Durch Selbstexperimente und die Beobachtung des inneren Reifungsprozesses vieler Analysanden gelangte Jung - noch während des ersten Weltkrieges - zu einem Modell der menschlichen Psyche, welches gegenüber dem freudschen Modell etwas grundlegend Neues postulierte: Jung glaubte entdeckt zu haben, dass das gesamte menschliche Seelenleben im Unbewussten zentriert war und dort eine unabhängig vom bewussten Ich funktionierende und diesem überlegene Mitte besaÃ, von der aus das für uns Menschen arttypische seelisch-geistige Entwicklungsprogramm gesteuert wurde. Hatte Freud einst den Satz geprägt: „Wo Es war, soll Ich werden“, so nahm nun Jung dem Ich seine Führungsposition im Seelenleben und forderte, das Ich habe sich den Zielen des uns unbewussten Selbst - moderner formuliert: seines natürlichen, im Genom verankerten Entwicklungsprogrammes - einzufügen. Damit hatte Jung das positivistische Ich endgültig entthront und es dem unbewusst funktionierenden Selbst bei- und letztlich sogar untergeordnet.
{375} Mit der Entdeckung des Selbst und unserer weitgehend unbewusst (biologisch) gesteuerten seelisch-geistigen Entwicklung brachte Jung die fein säuberlich getrennten Fakultäten der Natur- und der Geisteswissenschaften durcheinander und stellte deren grundsätzliche Trennung als überholt hin. In dieser Hinsicht ist Jung ein „Enfant terrible“ des Universitätsbetriebes, der nach seinen Entdeckungen auf eine völlig neue Grundlage gestellt werden müsste. Jung sagte einmal, er erhalte zwar von Universitäten in aller Welt Ehrendoktortitel, aber die meisten von denen, welche ihm diese Titel verleihen würden, hätten kaum verstanden, worum es ihm eigentlich gehe. Letztlich ging es Jung um ein völlig neues Menschenbild auf der Grundlage eines neuen Verständnisses von Geist und Materie und damit um die Aufhebung der Trennung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften.
{376} Jung nahm mit seinem neuen Modell der Psyche auch das kybernetische Modell, das erst nach dem Zweiten Weltkrieg in die Biologie Einzug hielt, bereits um Jahrzehnte vorweg. Im Selbst - einem Datenverarbeitungszentrum, würde man heute sagen - wird das psychische Entwicklungsmuster durch einen Regelkreis gesteuert, in dem die genetisch festgelegten Sollwerte dauernd mit den Informationen verglichen werden, die von auÃen her im Selbst eintreffen. Werden die Abweichungen von den Sollwerten zu groÃ, greift das innere Führungszentrum korrigierend ein und versucht, die Sollwerte des Erbprogrammes durchzusetzen (was beim Menschen mit seinem lockeren Instinktgefüge alles andere als einfach ist). Die bei Differenzen zwischen den Ist- und den Sollwerten auftretenden Spannungen äuÃern sich nach Jung in spannungsgeladenen Träumen, negativen Fantasien, Gereiztheit und Fehlhandlungen, aber auch psychosomatisch in Form von Angstzuständen, vegetativen Störungen, neurotischen Symptomen, Depressionen, psychosomatischen Krankheiten etc. Damit hat die Tiefenpsychologie das heute jedermann bekannte Gebiet der wissenschaftlichen Psychosomatik um mehr als ein halbes Jahrhundert im Voraus entdeckt.
{377} Im Selbst ist - das ist das grundlegend Neue bei Jung - das gesamte Evolutionswissen gespeichert. Das menschliche Selbst, das sich im Laufe der Evolution herausgebildet hat, weià aus seiner Vergangenheit (durch ein unbewusstes Wissen, also eine unserem Bewusstsein nicht zugängliche geistige Tätigkeit), wie sich ein Lebewesen verhalten muss, um existieren und überleben zu können. Das Unbewusste verfügt also nach Jungs Erfahrung über ein Wissen, das dem bewussten Wissen der menschlichen Vernunft weit überlegen ist. In vielen Träumen zeigte sich für Jung dieses hilfreiche Wissen, das seinen Patienten einen weiterführenden Weg offenbarte, wenn das Ich mit seinen Künsten am Ende war. Darum machte er die Botschaft der Träume zur Mitte seiner Therapien. Es ging ihm in seinen Psychotherapien darum, das Bewusstsein des Menschen an das uralte Naturwissen des Selbst und den darin enthaltenen Reifungsprozess anzuschlieÃen, also den Geist des kurzlebigen menschlichen Bewusstseins zu verbinden mit dem uralten Naturgeist des Selbst. Wenn beide, der bewusste und der unbewusste Geist, miteinander zusammenwirken, kommt der Mensch wieder ins innere Gleichgewicht, und die Spannungssymptome verschwinden. Die Botschaft der Träume ist die Botschaft eines uralten Naturgeistes, der im menschlichen Genom gespeichert ist. Diesen uns unbewussten Naturgeist erlebte Jung an sich selber und bei zahlreichen Analysanden als weise und dem Ich in mancher Hinsicht überlegen. Immer wieder musste Jung staunen ob der Klugheit und Weisheit, die im Selbst gespeichert ist. Der innere Komponist unserer Träume, Visionen und Aktiven Imaginationen wurde ihm mit den Jahren zu einem verlässlichen spirituellen Führer, dem er zu vertrauen lernte, so wie man im archaischen Weltbild seinem Gott vertraut hatte. Die Pflege der Beziehung zum Selbst wurde für Jung zu einer zeitgemäÃen Form von Religiosität. Kurz gesagt: Das Selbst ist nach Jungs Erfahrung geistbegabt - mit dem Selbst aber auch jegliche Form von Leben, sogar die Materie.
{378} Damit hatte Jung das freudsche Modell der Psyche überholt, und die beiden groÃen Forscher mussten sich trennen. Die Differenz der Jungschen Vorstellung von der Seele zu derjenigen von Freud war so groà geworden, dass Jung nicht mehr der Kronprinz Freuds bleiben konnte. Er musste auch als Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Gesellschaft zurücktreten und sich gefallen lassen, dass sein Modell der Psyche von den meisten Freudianern als „nicht mehr wissenschaftlich“ oder gar als „mystisch“ verunglimpft wurde.
{379} Auf der Darstellung von Willy Obrist in Abbildung 9 ist der Unterschied zwischen dem Modell der Psyche von Freud und Jung deutlich herausgearbeitet: Nach Jung ist der Mensch in der Gesamtheit seines seelischen Lebens nicht mehr im Bewusstsein, sondern im Unbewussten zentriert. Zudem ist das Unbewusste bei Jung geistbegabt. Es funktioniert analog zu dem, was die Alten in der traditionellen, vom archaischen Weltbild geprägten Sprache als „mein Gott“ bezeichneten (die persönliche Führungsmacht im menschlichen Leben).
{380} Damit wurde der Wert des Unbewussten für das psychische Leben neu gewichtet. Es ging jetzt nicht mehr nur darum, die unbewussten Komplexe durch Analyse aufzulösen und deren Inhalte zu assimilieren, sondern auch darum, dass das Bewusstsein sich der Führung des unbewussten Naturgeistes im Selbst einordne. Damit hatte das Ich seine Hegemonie im Leben der Seele verloren. Das Ich war durch Jung vom einstigen König der Seele im Positivismus zu einem Vasallen über einen seelischen Teilbereich (das Bewusstsein) degradiert worden, welcher sein Land vom Selbst nur zu Lehen bekommen hatte. Willy Obrist gebraucht bisweilen einen anderen Vergleich: Das Selbst ist wie die Führungsspitze eines internationalen Konzerns und das Ich wie ein Filialleiter, der in „seiner“ Filiale zwar eine gewisse Handlungsfreiheit besitze, sich aber letztlich doch den Intentionen des Gesamtkonzerns einzuordnen habe, weil „seine“ Filiale letztlich nicht ihm gehöre. Der Geist wirkt nach diesem Modell der Psyche nicht mehr nur im bewussten Verstand des Menschen, sondern auch im uns unbewussten Selbst und damit letztlich in allem Sein. Er ist - natürlich in verschiedenen Formen, je nach der Evolutionshöhe eines Wesens- in allem Lebendigen anwesend. Er ist das anordnende Prinzip. Was wir als „Geist“ bezeichnen, ist der eine Aspekt des Seins, den anderen nennen wir „Materie“.
Abb. 9 Das Jungsche Modell der menschlichen Psyche (L 23, S. 104)
{381} Nach Jung ist Religiosität etwas Natürliches. Das Selbst tritt nun an die Stelle des den Menschen begleitenden Gottes aus dem archaischen Weltbild. Selbsterfahrung und Gotteserfahrung sind für Jung daher nicht unterscheidbar; denn wenn sich das Selbst in einem groÃen Traum oder einer Vision dem Ich mitteilt, ist dieses Erlebnis für das Ich immer eine numinose Erfahrung, ein „Fascinosum et Tremendum“. Jung hat also die Wohnung der metaphysischen Wesen nicht wie Freud in ein Nichts aufzulösen versucht, sondern das Jenseits aus der „übernatürlichen“ AuÃenwelt in den unbewussten Seelengrund des Menschen zurückgeholt. Dort aber wurde es nicht weganalysiert (das Selbst ist für Jung ein „lebendiger Gott“). Das archaische äuÃere Jenseits ist nach Jung zu einem inneren „Jenseits-Des-Bewusstseins“ geworden. Der Geist ist nun ein Aspekt des Seins, der diesem von allem Anfang an innewohnt, aber nicht als selbstständige Wesenheit, die sich vom Sein trennen könnte wie die archaische Seele vom Erdenleib. Materie und Geist sind nicht Wesenheiten, welche an sich und für sich selbst existieren. Sondern „Geist“ und „Materie“ sind abstrakte Bezeichnungen unseres Bewusstseins für zwei Seiten des einen, einheitlich zu denkenden Seins (das unser Bewusstsein in seiner Einheit nicht fassen kann und darum in zwei polare Gegensätze zerlegen muss).
{382} Mit dem Selbst hatte Jung das ganzheitlich funktionierende, geistbegabte, lebendige, reaktionsfähige innere Führungszentrum entdeckt, das analog zu jener Macht funktioniert, welche die Alten innerhalb des archaischen Weltbildes ins Jenseits hinausprojiziert hatten. Das Jenseits der Alten entpuppte sich für Jung als ein psychisches Jenseits. Was die Alten als „Diesseits“ oder „Welt“ bezeichneten, wurde nun neu zum menschlichen Ich-Bereich, jenem Teil der Wirklichkeit, über den das Ich verfügen kann. An die Stelle des persönlichen Führergottes der Alten trat bei Jung das Selbst. Religiosität bedeutete nun für Jung, diesen „stillen Rufer“ in sich wahrzunehmen und ihm Gehör zu verschaffen, damit der Mensch seiner inneren Natur gemäà leben lerne. Jung glaubte, der Mensch werde heil, wenn er auf die innere Stimme des Selbst achte. Dieses sorgfältige „Achten auf die Intentionen des Selbst“ entspricht dem archaischen „Achten auf den Willen Gottes“ und ist damit die über beide Weltbilder hinweg konstant gebliebene Religiosität des Menschen („Religio“ kommt von „relegere“ = sorgsam beachten). Jung bezeichnete die Religionen als „psychotherapeutische Systeme“.
{383} Mit diesen Entdeckungen vermochte Jung den Code der religiösen Tradition der gesamten Menschheit zu knacken. Da die archetypische Grundlage (das Genom) der Menschen auf der ganzen Welt in den Grundzügen dieselbe ist, müssen auch - so folgerte Jung - sämtliche Religionen gemeinsame Grundzüge besitzen. Jede einzelne historisch gewachsene Religion ist für Jung eine Spielform der allgemeinmenschlichen, im Genom in ihren arttypischen Grundzügen verankerten Religiosität. Die Mythen der alten Völker wurden für ihn zum reichen Bilderbuch der einen menschlichen Seele.
{384} Man könnte nun annehmen, dass die grundsätzlich positive Wertschätzung der Religion durch Jung die Beziehung der christlichen Kirchen zur Tiefenpsychologie verbessert habe. Aber das war keineswegs der Fall. Durch das radikal neue Verständnis der menschlichen Religiosität trat Jung in eine im Grunde noch viel schärfere Konkurrenz zu den traditionellen religiösen Institutionen als Freud. Denn die religiösen Institutionen konnten Freud als Atheisten brandmarken und sich auf diese Weise gegen ihn abschotten. Jung aber war ein Wolf im Schafspelz: Er kam als Freund der Religion daher, verwarf aber deren archaisches Gewand und warf damit der Kirche implizit vor, eigentlich habe er und nicht sie einen zeitgemäÃen Glauben anzubieten, obwohl er nicht Theologie, sondern Naturwissenschaften studiert hatte.
{385} Konsequenterweise hätte Jung einen „Club für zeitgemäÃe Religiosität“ begründen und in eine offene Konkurrenz zu den konservativ im archaischen Weltbild verharrenden Kirchen treten können. In Tat und Wahrheit hat er aber bis an sein Lebensende immer wieder gehofft, es gelinge ihm, (reformierte wie katholische) Theologen von seiner neuen Sicht der menschlichen Religiosität zu überzeugen. Er war jeweils sehr betrübt, wenn er wieder erfahren musste, dass sich ein Theologe, der mit ihm das Gespräch gesucht, nachträglich doch wieder von seiner Sicht der menschlichen Religiosität abgewandt hatte, weil ihm damit der Boden in seiner eigenen Kirche zu heià geworden war.
{386} Im Grunde genommen wäre es die Aufgabe des Staates, die Pflege einer zeitgemäÃen Religiosität samt der Ausbildung entsprechender Seelsorger an die Hand zu nehmen. Denn so wie sich der Staat kümmern muss um die Bildung seiner Bürger, um deren Gesundheit und die Altersversorgung, um das Kranken- und Sozialwesen sowie um eine sinnvolle Verteilung der Arbeit, so sollte er sich auch darum kümmern, dass die in ihm lebenden Menschen einen menschennatürlichen Lebensstil pflegen und sich dem Selbst entsprechend entwickeln. Eine gesunde Religiosität und ein menschengemäÃer Lebensstil sind die billigste und beste Prophylaxe gegen Ãbel aller Art. Heute, da das Ãberleben der Menschheit gefährdet ist, sollte es dem Staat eigentlich immer wichtiger werden, dass möglichst viele Menschen wieder lernen, ihrer tieferen Natur und ihrem inneren Erbprogramm gemäà zu leben. Wenn die traditionellen religiösen Institutionen nicht mehr in der Lage sind, Religiosität zeitgemäà zu vermitteln, müsste der Staat diese Aufgabe wahrnehmen. Denn von einem menschengemäÃen Leben hängt das Ãberleben unserer Spezies ab. SchlieÃlich hat der Staat den Kirchen in den letzten Jahrhunderten auch das Schul-, das Gesundheits- sowie das Sozialwesen „abgenommen“ und es sukzessive professionell ausgebaut. Die Ãbernahme der Pflege einer gesunden zeitgemäÃen Religiosität wäre nur die logische Folge dieser Entwicklung der letzten Jahrhunderte. Religiosität ist kein Luxus. Sie hilft dem Menschen, den in ihm angelegten natürlichen Entwicklungsweg zu finden und auch zu gehen (als ich diese Gedankengänge einmal in extenso dem dafür zuständigen Zürcher Regierungsrat unterbreitete, fand dieser allerdings keine Zeit dazu, sich mit einer solchen „Zukunftsmusik“ zu befassen).
2. Die erste und die zweite Lebenshälfte
{387} Jung hat die (im Genom verankerte) seelische Entwicklung des Menschen in zwei Hauptphasen aufgeteilt, in eine erste und in eine zweite Lebenshälfte. Den beiden Lebenshälften hat er je grundverschiedene Aufgaben zugemessen:
{388} In der ersten Lebenshälfte sollte ein Mensch sozialisiert werden, zu einem brauchbaren, vielleicht sogar tüchtigen Glied der Gruppen und Verbände heranwachsen, in denen er lebt. Die erste Lebenshälfte steht nach Jung unter der Dominanz des Aufbaus eines weltgewandten Ichs, das sich eine äuÃerlich möglichst stabile Position in der Gesellschaft aufzubauen versteht. Diese Fähigkeit, mit der AuÃenwelt in einem guten Kontakt zu stehen und mit den Gegebenheiten dieser Welt gut zurande zu kommen, nannte Jung die Fähigkeit der „Persona“ (so hieà die Maske der Schauspieler in der Antike; Jung assoziierte also das öffentliche Leben mit einem Theater!). Wenn sich der Mensch nach Jung artgemäà entwickelt, baut er sich in seiner ersten Lebenshälfte eine gut funktionierende Persona auf, dank der er auf der Bühne des Lebens eine akzeptable Rolle bekommt und im Gesellschaftsspiel mit von der Partie ist.
{389} In der zweiten Lebenshälfte aber verschiebt sich die Lebensaufgabe langsam zu Gunsten einer gröÃeren Bewusstheit des Menschen von sich selber, der Ausreifung und Ganzwerdung der Persönlichkeit, der bewussten Selbstfindung. Die spirituellen Fragen werden zunehmend wichtiger. Wertvoller als das „Welttheater“ wird nun der Aufbau einer guten Beziehung zum inneren übergeordneten Führungszentrum, dem Selbst. Es geht um die Belebung der Ich-Selbst-Achse. Beim Aufbau der gut funktionierenden Persona ist vieles im Schatten liegen geblieben, und dieses muss nun zur Abrundung der Gesamtpersönlichkeit hervorgeholt und integriert werden. Das ist die Hauptaufgabe bei der Entwicklung der Persönlichkeit in der zweiten Lebensphase.
{390} Dieses Zwei-Phasen-Lebensmodell hat Jung selber intensiv erlebt: Nachdem er sich in der Adoleszenz, enttäuscht über die religiöse Impotenz seines Vaters, entschlossen hatte, der väterlichen Religion den Rücken zu kehren und sich den Naturwissenschaften zuzuwenden, wurde er ein tüchtiger Medizinstudent und spezialisierte sich danach auf Psychiatrie. Mit 30 Jahren war er bereits Oberarzt und Chefarzt-Stellvertreter im „Burghölzli“, einer damals wegen ihrer Erfolge in der Behandlung Schizophrener weltberühmten psychiatrischen Klinik, und Jung hatte - bereits vor dem Zusammentreffen mit Freud - sein Assoziationsexperiment zum Nachweis unbewusster Störfaktoren entwickelt, das später von der Polizei als „Lügendetektor“ übernommen wurde. Bald durfte Jung an der Universität Zürich für Medizinstudenten Vorlesungen über Medizinische Psychologie halten, und auÃerdem wurde er auch Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Gesellschaft. Jung war ein „Senkrechtstarter“.
{391} Doch dann ereilte ihn „die Krise des Tüchtigen“ (L11). Er spürte immer deutlicher, dass er mit seiner glänzenden Karriere zu hoch hinaus wollte. Etwas in ihm zog ihn hinab und drängte ihn, sich nach innen, der Tiefe seiner Person, zuzuwenden. Es ist ein Zeichen echter Religiosität von CG. Jung, dass er diesem „Etwas“ und dessen stillem Ruf Gehör schenkte. Er hat die „Zeichen von drüben“ persönlich „sorgsam beachtet“. Es war allerdings keineswegs einfach, diesem inneren Ruf zu folgen und dabei seine Persona aufs Spiel zu setzen. Er setzte sich zu Gunsten seines inneren Entwicklungsweges ins Out (er konnte sich das dank den materiellen Ressourcen seiner Frau zumindest finanziell leisten).
{392} In diesen Krisenjahren, nach seinem fünfunddreiÃigsten Lebensjahr, wandte er sich ganz dem inneren Informationsstrom vom Selbst zum Ich zu und versuchte, im Selbstexperiment herauszufinden, was sein Inneres mit ihm wolle. Er tat dies durch sorgfältiges Achten auf seine Träume und inneren Bilder, durch das Studium dazugehöriger Mythen und Märchen aller Völker sowie durch die Entwicklung einer neuen Methode des Umgangs mit dem Unbewussten: der so genannten „Aktiven Imagination“. Jung lernte in dieser Krisenzeit, sich seiner inneren Führungsmacht immer mehr anzuvertrauen. Dieselbe Führungsmacht erkannte er auch bei seinen Patienten und in den Religionen aller Völker und Zeiten. Auf die Intentionen des Selbst zu achten und sich seinem Führungsprogramm einzugliedern, wurde nun sein Bestreben in der Psychotherapie.
{393} Ein eindrückliches persönliches Beispiel für eine gelungene Angleichung des Ichs an das Selbst, also für eine Religiosität in zeitgemäÃer Form, schildert der bekannte Publizist Franz Alt in seinem „C. G. Jung-Lesebuch“ (Walter Verlag 1983, Klappentext). Auslöser waren schwere Herzrhythmusstörungen:
{394} „Ich war 41. Mir war klar, dass meine Krankheit etwas mit meinem Lebensstil zu tun haben musste. Aber mir war nicht klar, wie ich ihn ändern sollte. . . . Ich ging zu einer Psychotherapeutin, einer Schülerin C. G. Jungs, und begann, meine Träume aufzuschreiben und sie mithilfe der Psychotherapie zu analysieren. Das war eine Art Selbstbesinnung. Ich versuchte dann, das zu leben, was mir die Träume, mein Unbewusstes, sagten. Ich lernte, in mich hineinzuhören, suchte meinen inneren Kompass, meinen Kern, und lernte, dass das Unbewusste über Träume ein groÃer Freund und Ratgeber des Bewusstseins sein kann. Seither versuche ich . . . auf meine Träume zu achten. Seitdem . . . ist auch mein Herz wieder gesund. Mein Arzt hatte dafür keine medizinische Erklärung. “
{395} In diesem Fall kann man die Behandlung von Franz Alt nicht als eine eigentliche Psychotherapie bezeichnen. Es handelte sich um eine psychagogische Begleitung. Die Psychagogik entspricht der uralten, seit Jahrtausenden geübten spirituellen Begleitung von Menschen durch so genannte „Seelenführer“ (Gurus), wobei es im wesentlichen darum ging, das Ich mit dem Selbst in Einklang zu bringen. Psychagogik ist demnach eine zeitgemäÃe Form der uralten Seelsorge (Psychotherapie ist die qualifizierte Heilung seelischer Krankheiten; Psychagogik ist das Begleiten der Seele auf ihrem spirituellen Weg einer ganzheitlichen Selbstfindung vorwiegend in der zweiten Lebenshälfte; eine Jungsche Psychotherapie endet oft als Psychagogik).
{396} Seit Franz Alt sich bemüht, zeitgemäà religiös zu leben, spukt sein Herz nicht mehr. Der positivistisch eingestellte Arzt kann das freilich nicht verstehen. Franz Alt ist gesund geworden, weil er sich seinem eigentlichen Wesen entsprechend weiterentwickelt und seiner Natur gemäà zu leben begonnen hat. Das ist das Ziel einer zeitgemäÃen Religiosität.
Die Tiefenpsychologie vor der Frage nach dem Bösen
Was ist gut, was böse?
{397} „Für Gott ist alles schön, gut und gerecht;
aber die Menschen wähnen
das eine als Recht und das andere als Unrecht. “
Heraklit von Ephesos (um 500 v. Chr. ), Fragment 102
{398} In einem Dorf im alten China lebte einst ein weiser Bauer. Seine Dorfgenossen schätzten ihn; voller Bewunderung hatten sie acht darauf, was er tat und wie es ihm erging. Einst gelang es diesem Bauern, in der Steppe einen wilden Hengst einzufangen. Er brachte ihn heim. Die Bauern im Dorf gratulierten ihm: „Was für ein Glück du hast!“ Er aber sagte: „Wir werden sehen. “ Eines Morgens war der prächtige Hengst weg. Die Bauern zeigten Mitgefühl: „Oh, welch ein Unglück!“ Er aber sagte: „Wir werden sehen. “ Zwei Tage später kehrte der Hengst wieder zurück - mit einer prächtigen Stute. Die Bauern freuten sich: „Oh, was für ein Glück!“ Er: „Wir werden sehen. “ Am nächsten Tag versuchte sein wackerer Sohn, die wilde Stute zuzureiten. Er wurde jedoch abgeworfen und brach sich dabei ein Bein. „Oh, was für ein Pech, gerade jetzt, in der Erntezeit, wo du deinen Sohn so dringend brauchst!“ sagten die Bauern. - „Wir werden sehen. “ - Eine Woche später kamen Abgesandte des Kaisers und rekrutierten Soldaten für den Krieg. Alle gesunden jungen Männer wurden zum Militärdienst eingezogen; nur der Sohn des weisen Bauern durfte zu Hause bleiben.
{399} Glück! Unglück! Gut! Böse! Die Dorfbewohner meinten stets zu wissen, was Glück und was Unglück, was gut und was böse sei. Doch der Schein trog. Der weise Bauer konnte warten, bis die Zeit es an den Tag brachte, ob etwas wirklich ein Glück oder ein Unglück, beides zusammen oder auch keines von beiden war.
{400} Weise Menschen rieten schon immer zur Zurückhaltung im Urteil über Gut und Böse:
{401} -Ein Wort aus der Tradition des Zen: „Nimm ein Blatt Papier, und schreibe: ; dann zerknülle das Papier und wirf es zum Abfall!“
{402} -Lao Tzu: „Ist ein Unterschied zwischen ja und nein, gut und böse? Welch ein Unfug!“
{403} -Matthäus 7,1 und 13,30: „Fällt kein Urteil! Lasst das Unkraut mit dem Weizen zusammen heranwachsen. Die Zukunft wird an den Tag bringen, was wertvoll und was unnütz ist. “
{404} -Goethe bezeichnete in jener berühmten Stelle in Fausts Studierzimmer den Teufel als „Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“ (Faust I).
{405} -Heraklit aus Ephesos: „Alles flieÃt, wandelt und verwandelt sich in sein Gegenteil. “
{406} Heraklit nannte die Gegenläufigkeit, die allem Lebendigen innewohne, Enantiodromie; sie war für ihn ein Grundgesetz des Seins: Aus Nacht wird Tag und wieder Nacht; aus Winter Sommer und wieder Winter; aus Leben Tod und wieder Leben. In allem Wandel aber bleibt das Sein eines und dasselbe. Nach diesem Gesetz der Enantiodromie ist es für uns Menschen unmöglich, jemals endgültig bestimmen zu können, was gut und was böse sei. Darum nennt er unser Urteil über Gut und Böse ein Wähnen: „Die Menschen wähnen das eine als Recht, das andere als Unrecht. “
{407} Vielleicht hat aus einem ähnlichen Grund einer der gelehrtesten christlichen Denker des Altertums, der Alexandriner Origenes (180-Z54), dafür plädiert, dass zuletzt schlieÃlich auch der Teufel erlöst werde. Er glaubte nämlich, dass am Schluss der Heilsgeschichte Gott wieder alles in allem und somit auch das Böse wieder in dieses allumfassend Göttliche integriert werde. Das ging aber dem maÃgebenden Teil der Amtskirche, bei aller Hochachtung vor Origenes, doch zu weit. Die Kirche hat des Origenes Ansicht von der schlieÃlichen Erlösung des Teufels - allerdings erst anderthalb Jahrhunderte nach dessen Tod - auf einer Synode im Jahre 400 verdammt.
{408} Was wir Menschen im Alltag gewöhnlich als „gut“ oder als „böse“ bezeichnen, ist zunächst einmal ganz einfach das, was uns im Augenblick persönlich zu nützen oder zu schaden scheint, freut oder ärgert, positiv oder negativ berührt, was unseren Gewinn- oder Meidinstinkt aktiviert. Aber der Schein trügt, wie uns die Erfahrung im Leben immer wieder lehrt: Zum einen betrachten verschiedene Menschen, verschiedene ethnische Gruppen und Kulturen dasselbe Geschehnis oft mit verschiedenen WertmaÃstäben und gewinnen darum ganz unterschiedliche Ansichten zur selben Sache; unser eigenes Urteil ist stets subjektiv und relativ. Zum andern erscheint uns oft nach einer gewissen Zeit genau das, worüber wir uns zuerst ärgerten, schlieÃlich gar nicht so schlimm: „Ende gut, alles gut. “ Dafür aber hat sich vielleicht just das, was uns im Augenblick gefreut hatte, nachträglich als etwas herausgestellt, was uns schlieÃlich mehr Schaden als Nutzen einbrachte. Darum sagen die Sprichwörter weise:
{409} „Nichts ist so schwer zu tragen wie eine Last von guten Tagen. “ Und: „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker. “
{410} Gibt es überhaupt prinzipiell Gutes und prinzipiell Böses, also etwas, das von Anfang an und in alle Ewigkeit gut ist und immer gut bleiben wird oder aber böse ist und stets böse bleiben wird? Gibt es das?
{411} Vielleicht hat die mythische Erzählung am Anfang der Bibel (1. Mose 3) recht, die sagt, dass der Mensch damals, als er versuchte, selber zu bestimmen, was gut und was böse sei, „in des Teufels Küche“ geriet. Damals, als der Mensch die Bewertung der Geschehnisse als „gut“ oder als „böse“ selber in die Hand genommen habe, hätten alle menschlichen Irrungen und Wirrungen ihren Anfang genommen. Nun aber sei der Weg zurück ins Paradies versperrt. Wir können nicht mehr damit aufhören, moralisch zu urteilen.
{412} Die Tiefenpsychologie versteht den Mythos vom Baum der Erkenntnis im Zusammenhang mit der Evolution des menschlichen Bewusstseins und der dabei erfolgten Lockerung des Instinktgefüges: Der Homo sapiens kann sich nicht mehr automatisch von einer Instinktordnung durchs Leben leiten lassen. Er muss sein Leben teilweise bewusst gestalten. Das scheint des Menschen Auszeichnung, aber auch sein Fluch zu sein. Der Mensch wird nicht mehr überwiegend instinktiv durch das Leben geführt; sondern er muss sich immer wieder neu bewusst entscheiden: „Welcher Weg ist diesmal der richtige?“ Entscheidungen sind bekanntlich, wie Freud in seiner Darstellung des Konfliktes zwischen Es, Ãber-Ich, AuÃenwelt und Ich geschildert hat, alles andere als einfach.
{413} Tiere haben es in diesem Punkte einfacher. Ihr Instinkt ist oft weiser als unser Bewusstsein. Der Instinkt hatte Jahrmillionen Zeit, sich optimal ins Gewebe des Lebens einzufügen, während unser bewusstes Leben so schrecklich kurz ist: Alle Fehler, welche die Menschen seit Jahrtausenden üblicherweise begehen, müssen wir Menschen während unseres kurzen Lebens anscheinend selber auch machen. Denn die Lehren, welche die Alten aus ihrem Leben ziehen konnten, werden leider nicht biologisch vererbt. Jeder einzelne muss daher selber in die Pfütze treten. Das im Leben Gelernte kann er seinen Kindern nur in seltenen Fällen weitergeben; denn sie werden es ihm kaum glauben, bis sie es selber erfahren haben. Was den Tieren ihr Instinktgefüge (ihr unbewusster Geist) untrüglich und sicher lehrt, sollte uns einerseits unser rudimentär entwickeltes Instinktgefüge wenigstens ahnen lassen, und andererseits könnte es uns auch der im Laufe der Jahrtausende angesammelte „Schatz der Weisen“ lehren. Ist die Menschheit aber in der Lage, aus ihrer Geschichte und dem „Thesauros der Alten“ etwas zu lernen? Wir wurden in den 50er-Jahren im humanistischen Gymnasium noch mit Weisheiten der Alten voll gestopft; ich fand es zwar nicht uninteressant; aber: Was hat's genützt?
{414} Was ist gut, was böse?
{415} Ein bedenkliches Fazit: Wir Menschen können nicht einmal sagen, wir wüssten überhaupt nicht, was gut und was böse sei.
{416} Denn wir haben gewiss eine Ahnung davon. Wir können aber andererseits auch nicht sagen, wir wüssten es. Denn unsere Urteile - wie peinlich für die „Krone der Schöpfung“! - müssen stets wieder revidiert werden, und was heute böse scheint, wird morgen gut. Der weise Heraklit aus Ephesos scheint mit dem Gesetz der Enantiodromie ein wesentliches Gesetz des Lebens erkannt zu haben. Das stellt uns vor schwierige Grundsatzfragen, wie wir gleich erörtern wollen.
2006-09-10 03:49:33
·
answer #9
·
answered by Pollyvision 6
·
0⤊
1⤋