Die Rezeption eines Autors in einem anderen, wenn auch gleichsprachlichen benachbarten Land und doch in einem verschiedenen Kulturkreis, überdies die Rezeption eines Autors, der sich selbst zunehmend als exemplarisch ansieht und auch von seiner Umgebung und einer einflußreichen Gruppe im reflektierenden Publikum als "klassisch" ausgerufen wird, besteht im wesentlichen aus drei Vorgängen:
I. Aus persönlichen Beziehungen zu Lebzeiten. Darunter sind Kontakte mit Menschen des privaten Freundes- und Bekanntenkreises gemeint und solche mit Menschen der Öffentlichkeit und von kultureller Bedeutung, sowie persönliches Kennenlernen des anderen Landes durch Anschauung.
II. Die Verbreitung der Werke und die Akzeptanz des Beispielhaften und Normgebenden ihrer ästhetischen Struktur und der Persönlichkeit ihres Verfassers, mithin die Bedeutung von Autor und Werk.
III. Die Bildung eines Mega-Praetexts aus der Bedeutung von Autor und Werk, der den Hintergrund für Auswahl und Adaption bestimmter Texte gemäß der eigenen Situation der Rezipierenden bildet.
I. Persönliche Beziehungen zu Lebzeiten
Es ist bekannt, daß Goethe von den Kernländern der Habsburgermonarchie kaum etwas gesehen hat. Er ist nie in Wien gewesen, er durchquerte dreimal Tirol - während der Reise nach Italien 1786 und auf dem Hin- und Rückweg nach und von Venedig 1790. Vorarlberg sah er auf der Rückreise aus Italien 1788, und in Italien selbstverständlich die damals österreichischen Städte Millano, Como und Mantua. Auch unternahm er einmal 1790 eine kurze Reise von Schlesien aus in das österreichische Galizien.
Ebenso bekannt und in allen Einzelheiten des sozialen Umgangs und des geographischen Aufenthalts belegt, sind seine Badeaufenthalte im österreichischen Böhmen. Teils verklärend, teils vereinnahmend berichtet die Literatur- und Kulturgeschichte, daß er zwischen 1785 - 1823 insgesamt über drei Jahre seines Lebens als Kurgast in berühmten Badeorten Nordböhmens verbrachte, nämlich in Karlsbad (1785, 1786, 1795, 1806-08, 1810-12, 1818-20, 1823) Marienbad (1821-23), Franzensbad (1808), Teplitz (1810, 1812-13) und Eger(1791, 1794).
Baden und Badeaufenthalte mit Schwimm-, Guß- und Trinkkuren waren im 18. und später im 19. Jahrhundert eine Grundtherapie gegen Fettleibigkeit, diverse Leber- und Nierenleiden sowie gegen allgemeines Unbehagen. Goethe, hier im Gegensatz zu den meisten Vertretern bürgerlich-städtischer Lebensform, war als Anhänger Rousseaus durchaus ein Vertreter des kalten naturbelassenen Badens und Schwimmens in Flüssen und Seen: Die von ihm erbrachten Zeugnisse reichen von seiner Studentenzeit in Leipzig, über diverse Schweizer Abenteuer bis nach Weimar mit winterlichen Schwimmpartien in der Ilm und seinen Reisen, wo Bäder in der Lahn, im Rhein und im Tiber geschildert und in dichterischen Texten integriert werden. Manchmal wurden Badeaufenthalte aus gesundheitlichen Gründen durch häusliche Trink- und Badekuren ersetzt, doch ungern: Die Badeaufenthalte dienten Goethe, ganz wie für seine dichterischen und nichtdichterischen Zeitgenossen, der Flucht vor der Alltagsmisere mit ihren diversen Verpflichtungen und Querelen und der Verbindung mit dem Kennenlernen eines fremden Landes mit seiner Bevölkerung, Geschichte, Landschaft und Geologie sowie der Begegnung mit Persönlichkeiten aus der großen Welt der Diplomatie und der Welt der Künste.
Vor allem traf sich die europäische politische und kulturelle Oberschicht in den böhmischen Bädern, die keineswegs auf das österreichische Element allein beschränkt war, und deren Vertreter ein buntes Spektrum mitteleuropäischer Herrscher, Politiker, Diplomaten, Wissenschaftler und Künstler darstellten. So trat Goethe in den böhmischen Bädern u.a. in kürzer oder länger andauernden Verkehr mit Zar Alexander I., Kaiserin Maria Ludovika v. Österreich, August Prinz von Preusen, mit den Fürsten Blücher, Liechtenstein, Ligne, Metternich und Schwarzenberg, den Grafen Auersperg, Reinhard und Sternberg, mit Beethoven und Maria Szymanowska und mit einer Reihe bedeutender Persönlichkeiten aus dem böhmischen katholischen Klerus. In Böhmen gewann Goethe vermutlich jenen Eindruck einer offenen deutsch-kosmopolitschen geistigen Landschaft und Gesellschaft, die ihn zum Konzept seiner Vorstellung von Weltliteratur und Weltkultur führte - dies alles innhalb Europas erträumt. Freilich reichen seine Berührungen mit Österreich in eine frühere Zeit zurück, nämlich bis in die Zeit der Aufklärung unter Joseh II. und des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Die Begegnungen mit einer Reihe von österreichischen Schaupielern, die Goethe während seiner Tätigkeit als Weimaraner Theaterdirektor kennenlernte, sowie die Bekanntschaften mit Joseph Schreyvogel, dem späteren Sekretär und heimlichen Intendanten des Wiener Hofburgtheaters, und mit Joseph v. Retzer verliefen nicht harmonisch - zu sehr waren jene für Goethe noch Zeugen einer Zeit des späten Rokoko mit seiner überindividuellen rhetorischen Gemeinschaftskultur, welche durch die Geniezeit und die Klassik in Deutschland als überwunden erachtet war. Goethes innere Distanz zur osterreichischen Literatur zeigte sich auch gegenüber Grillparzer, mit dem er zwar freundlich über die auch in Weimar aufgeführte Sappho spricht, dessen Erschütterung über die Begegnung mit dem "Klassiker" aber mit peinlicher Berührung übergangen wird. So viel über die biographische Seite, die durch die Begegnung mit der aus Linz stammenden Marianne von Willemer eine poetische Bereicherung erfuhr, und durch den Briefwechsel mit einer Reihe von Persönlichkeiten aus der Wiener Gesellschaft (unter ihnen Joseph v. Spaun, Karoline Pichler, Cornelia v. Eiskeles, Graf Purgstall, Graf Harrach, Marianne v. Eybenberg) und mit bekannten Musikern (Beethoven, Schubert, Dietrichstein und Tomaschek) die Grenzen der konventionellen Kenntnis österreichischer Verhältnisse nicht überschritt.
II. Die Verbreitung von Goethes Werke
Die Verbreitung von Goethes Werken und die Akzeptanz ihrer Beispielhaftigkeit setzte früh in Österreich ein. Allerdings müssen hier zwei Momente berücksichtigt werden: einerseits die säkularisierte Neuordnung der Zensur unter Joseph II.(Juni 1781), die zwar die Person des Monarchen jeder Kritik überließ, die Stützen des Staates aber, wie Religion, Familie und öffentliche Sittlichkeit nach wie vor als Kriterien nun auch der sog. "schönen Künste und der freyen Wissenschaften" der Zulassung von Büchern voranstellte. Dies wurde nun so geregelt, daß keine geistlichen Instanzen mehr zwischen dem Zugriff des Herrschers und den schreibenden Untertanen liegen konnten. Anderseits konstantierte der Habsburgerstaat nach diesen Zensurlockerungen, daß die physische Produktion von Buchern ebenso nicht behindert werden dürfe, da die Importe im Ausland produzierter, die Aufklärung fördernder Werke zu teuer seien. Daher wurden schon unter Maria Theresia Nachdruckprivilegien verliehen, welche die habsburgischen Buchdrucker und Verleger, besonders das allbeherrschende Verlagshaus Thomas Trattner, praktisch zum Raubdruck ermutigten und auf den Buchmessen in Leipzig und Frankfurt der allgemeinen Verachtung preisgaben. Auf dieser dubiosen Basis ist die erste Welle der Goethe-Rezeption nach Österreich getragen worden.
Wir wissen, daß Goethe bis in die Mitte der 80ger Jahre primär als der Dichter des Werther bekannt war, ein Bekanntheitsgrad, der ihm selbst nicht angenehm war. Im Unterschied etwa zur Götz-Rezeption, die sich in der Diskussion um dramentheoretische Fragen abspielte, und die eine Reihe von Nachahmungen in der Gattung der Ritterstücke hervorrief, betrafen die Auseinandersetzungen um den Werther offenbar das Lebensgefühl einer ganzen Generation. Hier wurde weniger um ein Stück Literatur gestritten, als vielmehr um die Prinzipien bürgerlicher Lebensordnung. Wobei das Einschreiben des Werther in den Index der verbotenen Literatur in Wien weniger eine die Zeitgenossen rührende Liebesgeschichte betraf als vielmehr die durchaus verständliche theologische Frage des Selbstmords. Die Weigerung Werthers, sich den Zwängen des prosaischen Weltzustands der bürgerlichen Gesellschaft zu unterwerfen, hatte den Protest der Aufklärer (z.B. Nicolais) auf den Plan gerufen. In diese Kerbe schlugen auch die Verbieter des Romans in Österreich. Darüber hinaus mochte auch - wenn man òberhaupt das Buch genau las - jene Szene als Begründung eines Verbots gelten, in der der junge Werther aus der adeligen Gesellschaft höflichst hinausgewiesen wird. Die Frage des im katholischen Raum streng verabscheuten und kriminalisierten Selbstmordes tat ein Übriges, um den Werther zum Tabu zu erklären. Übrigens war das spätere 19. Jahrhundert wenig dazu geneigt, sich mit Werther zu identifizieren, und hier wirkte in Österreich das Mißtrauen nach, das eine ursprünglich überindividuelle Rhetorikkultur im Gefolge einer staatlichen Aufklärung dem subjektiven Genieprinzip entgegenbrachte. Dies war der Grund für die häufigen Travestien und Parodien, die das Werther-Thema in Österreich erfahren hat, die soweit gehen, daß sich Werther und Lotte im Elysium zu einem glücklichen Paar wieder finden und ein großartiges Feuerwerk das ganze tragische Stück beschließt. L.A.Hofmanns Schauspiel Das Werther-Fieber (1785) und Ferdinand Kringsteiners Posse mit Gesang Werthers Leiden (1807) bezeugen das ganz anders geartete Bewußtsein einer Gesellschaft, die dem übertriebenen Subjetivismus der Sturm- und Drangbewegung und der autonom eingesetzten Instanz des Subjekts als Maßstab der Weltordnung sehr skeptisch gegenüber stand. So wurde 1781 ein Werther-Stück im Prater aufgeführt (von Mellina) Werthers Zusammenkunft mit Lottchen im Elysium, in dem die treue Geliebte aus Gram über Werthers Tod ebenfalls ins Grab sinkt, um ihn im Jenseits desto fester in die Arme schließen zu können - begleitet von einer "starken Canonade" - also einem Feuerwerk. Daraus resultierte aber ein gewisses Unverständnis gegenüber dem neuen, zukunftweisenden Sprachstil: Was 1778 Gottlieb Leon im Wienerischen Musenalmanach mit seinem rokokohaften Stereotypen Mayenlied als Travestie zu Goethes Mayfest (1775) kreierte, fand seine Untermauerung in der gegen die Geniebewegung gerichteten Schrift des bayrischen Rhetoriklehrers Ludwig Fronhofer: Deutschlands belletristisches göldenes Jahrhundert (1779), sowie in einer Reihe von satirischen Schriften österreichischer Josephiner, in denen das zeitgenössische deutsche Geniewesen lächerlich gemacht wurde, so z.B. in Jospeh Friedrich Kepplers Der Kapotrock (1782) und in dem direkt gegen die zeitgenössischen deutschen Erscheinungen samt Sturm und Drang und Klassik gerichteten Roman des Wiener Freimaurers und Aufklärers Johann Pezzl Ulrich von Unkenbach und seine Steckenpferde (1800-01).
Grundlagen für diese eher negative oder ironische Goethe-Rezeption waren folgende Ausgaben Goethischer Schriften:
J. W. v. Goethe: Goethes Schriften, Wien und Leipzig 1788. Dies war die erste privilegierte Goethe-Ausgabe, von Kaiser Joseph II. am Ende seiner Regierungszeit privilegiert. Sie war mit einer Vignette der Vorarlberger Malerin Angelika Kauffmann ausgestattet.
In der Wiener Zeitschrift Prometheus, hrsg. v. Leo v. Seckendorf und J. Ludwig Stoll, erschien das Pandora-Fragment Goethes 1808.
Blumen des Guten, Schönen und Wahren. Eine Auswahl der schönsten Novellen aus den Werken Schillers, Goethes, Wielands, Pesth 1810. Hier werden Texte Goethes erstmalig in eine offizielle Chrestomathie aufgenommen.
J. W. v. Goethe; Sämmtliche Schriften, Wien A. Straus 1810-1817 in 26 Bänden. Diese Ausgabe ist die erste bis zum Endjahr der Erscheinung vollständige Gesamtausgabe, allerdings ein sog. "Schwarzdruck", d.h. der Autor war in die Bearbeitung der Ausgabe nicht eingebunden und auch finanziell ausgeschlossen. Allerdings war gerade diese Ausgabe der Ausgangspunkt der Kenntnis der Goetheischen Schriften in Österreich und mancher Anregung auch für nichtliterarische Gebiete, z.B. für die Musiker Beethoven und Schubert.
Wichtig für die Verbreitung und die Originalität der Goetheschen Schriften war die Bekanntschaft und die Gönnerschaft Metternichs. Dieser setzte es durch, das Goethes Werke: Die vollständige Ausgabe letzter Hand, Stuttgart bei Cotta 1827 - 42, in 60 Bänden, das Privilegium des Nachdruckverbots erhielten. Metternich hatte Goethe nach der Völkerschlacht bei Leipzig aufgesucht. Weiters begegnete er ihm im Juli und August 1818 in Karlsbad und verschaffte ihm die Ehrenmitgliedschaft in der Wiener Kaiserlichen Akademie der Künste und den Leopold-Orden. Das Erreichen des Privilegs war schwierig, da vom deutschen Bundestag ein Privilegium gegen den Nachdruck aus formalen Gründen nicht erreicht werden konnte. Metternich setzte es aber durch, daß die einzelnen Regierungen zur Verleihung des Privilegs aufgefordert wurden, und bemühte sich tatsächlich, daß das Schreiben in kürzester Frist ausgestellt und Goethe übermittelt wurde. Seither war einer breiten Rezeption von Goethes Werken in den österreichischen Ländern nichts entgegenstehend.
III. Der Mega-Praetext des Klassikers Goethe
Der lateinische Terminus "classicus" bedeutete ursprünglich einen römischen Bürger der höchsten Steuerklasse, der auf Grund seines Vermögens und seiner geistigen Fähigkeiten zur Elite seines Staates zählte (Servius Tullius). Seit dem Grammatiker Gellius (2. Jh. n.Chr.) ist ein "klassischer Schriftsteller" ein Schriftsteller, der bestimmte Normen, akzeptierte Vorbilder und eine bestimmte Epoche der kulturellen Vergangenheit zum Muster seines eigenen Schaffens erhebt.
Seit der Renaissance und dem Humanismus des 15. Jahrhunderts meint der Terminus "klassisch" die vorbildhafte Orientierung an der antiken griechischen Literatur des 5. und 4. Jahrhunderts, speziell in Athen, und an der lateinischen Literatur unter der späten Römischen Republik und unter der ersten Epoche des romischen Prinzipats (sog. "Goldenes Zeitalter der römischen Literatur"). In der Epoche der Romantik mit ihrer Entdeckung der nationalsprachlichen und nationalstaatlichen Eigenentwicklungen meint der Terminus ''Klassik" die kulturellen und künstlerischen Leistungen einer Nation, aus denen eine bestimmte verbindliche Repräsentanz ihrer Eigenschaften und ihrer Geschichte abgelesen werden kann. Die Verbindung des Klassik-Begriffs mit zentralistischer sprachlicher Normgebung und Vorbildwirkung ist evident und eine der wichtigen Fragestellungen der Geschichte der deutschsprachigen Literatur. Der Grund mancher Unsicherheiten in dieser Diskussion aber liegt in dem im deutschen Sprachraum gültigen Begriff des "Klassikers". Einerseits meint er die Nachfolge nach bestimmten, durch die Antike festgelegten Vorbildern, anderseits aber die Identität zwischen einem Autor und der Fragestellung seines Diskurses, mithin zwischen Individuum und Geschichte. Aus diesen Perspektiven ergibt sich die Klassikdiskussion.
In der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts fand um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein kulturgeschichtlicher Paradigmenwechsel statt. Goethe hat rückwirkend in seinem Sammeiband "Winckelmann und sein Jahrhundert" (1805) von der unzerstückten Natur der Griechen gesprochen, in der "jene kaum heilbare Trennung der gesunden Menschenkraft noch nicht vorgegangen sei." Goethes Aussage weist auf das oft formulierte Ziel der europäischen Renaissance-Bewegungen hin, nämlich auf die Wiederherstellung eines Persönlichkeits- und Gesellschaftszustandes, in dem der Einzelne mit dem Wertgefüge seiner Sozietät identisch sein und sich daher ungebrochen in ihr verwirklichen konnte. Damit enthüllte sich in der europäischen Ideengeschichte das Ideal vom tüchtigen, mit sich in der Welt identischen antiken Menschen schließlich unter dem Einflus Rousseaus als politische Metapher von der Zuerkennung des Naturrechts an alle Mitglieder der Gesellschaft.
Ganz anders präsentiert sich "Klassik" in der Literatur der habsburgischen Länder. Hatte sich im 17. Jahrhundert die Reform des Martin Opitz hier auf Grund der vielfaltigen regional- und fremdsprachlichen Verhältnisse nicht durchsetzen können, so verblieb eine durch die Gegenreformation aufgebaute grostenteils lateinische Rhetoriküberlieferung die überindividuelle Grundlage des literarischen Lebens. Daß ein solches Initiativ zu einem großen Teil aus eben dieser Rhetorik bestehen konnte, wurde beim Darstellen der Literaturentwicklung der Erblande meist übersehen. Dagegen spricht keineswegs die musikalisch-theatralische Schwerpunktsetzung mit ihrer hoch entwickelten italienischsprachigen Textierungs- und Librettotechnik der Antikenoper, die von Metastasio bis Da Ponte reicht und den spätbarocken Hof in Wien kennzeichnet. Unter dem Einfluß der jesuitischen Tradition und ihres instrumentalen Humanismus kann österreichische Literatur bis in die Zeit Josephs II. noch immer unter dem Begriff der Stilübung angesehen werden. Das heißt als Fähigkeit, zuerst in lateinischer und dann in deutscher Sprache an Schule und Universität zeitgenössische Wissenschaft zu vermitteln, in der Historiographie das Kaiserhaus apologetisch zu verherrlichen und feudales Gesellschaftszeremoniell mit literarischen Arabesken auszustatten. Das geschah auf der Grundlage jesuitisch - humanistischer Tradition und ihres Gebrauchs im Rahmen liturgischer Anlässe und schulisch-theologischer Gelehrsamkeit. Diese Instrumentalisierung ließ einen Literaturbegriff jenseits des Alltagsgebrauchs als autonomen Wertbereich, wo sich Utopie darstellen konnte, nicht zu. Daher bleibt die literarische Kultur auch der späteren österreichischen Aufklärung überindividuell und rhetorisch, auch als das genormte literarische Deutsch durch kaiserliche Erlässe (Presburger Spracherlasse von 1785) schon lange offizielle Amts- und auch Pressesprache war.
Aus dieser Überlieferung heraus bedeutet "klassisch" in der Literatur Österreichs im beginnenden 19. Jahrhundert keinesweg Literatur im Dienst eines bestimmten Menschenideals oder eines Kampfes um eine neuzugründende Identität. Deswegen konnte es auch nicht zu jenem Gegensatz zwischen "Klassisch" und "Romantisch" kommen, dessen Basis ja die Identitätssuche ist, die in der deutschen Romantik von der "progressiven Universalpoesie" über die Mittelalterbegeisterung bis zum staatlichen und sprachlichen Nationalismus reicht. Für Grillparzer etwa bedeutet klassisch die an der Antike orientierte, aber nicht von ihr abernommene Vollkommenheit: "Das Unterscheidende des Romantischen gegenüber dem Klassischen ist, das ersteres blos die Gemüthswirkung bezweckt, gleichwieviel auf welche Art sie bewirkt wird, das Interessante, das Geistreiche, daß Bedeutende, ja das Häßliche, alles ist ihr willkommen, wenn nur die beabsichtigte Aufregung dadurch hervorgebracht wird. Die alte Kunst aber ging blos auf das Schöne, d.h. auf jene Gemüthserhebung, die einzig und allein aus dem sinnlich vollkommenen Eindruck entspringt."
Dieses Ideal einer österreichischen Klassik war - durch die politische Gegebenheit eines kulturellen traditionsreichen Mittelpunkts, nämlich einer Residenz, - gegeben gewesen, aber durch den zunehmenden Nationalismus nach 1848 in Frage gestellt worden. Tschechische, ungarische und italienische Literatur pochten auf ihre Rechte der - mißverständlich vermißten - Eigenständigkeit. Die deutschsprachigen Teile der Monarchie orientierten sich zunehmend am übrigen deutschen Sprachraum und nach 1866 und 1871 am 2. Kaiserreich. 1855-56 war von dem Privatdozenten Joseph Tomaschek die erste Vorlesung an der Wiener Universität über die Schriften Goethes gehalten worden. Am 15. Mai 1878 fand unter dem Vorsitz von Karl Julius Schröer, einem Germanisten an der Technischen Hochschule in Wien die Gründungsversammlung des Wiener Goethe-Vereins statt, der nach dem Vorbild der schon lange existierenden Schiller-Gesellschaft Goethe und seinem Werk zur entsprechenden Würdigung und Rezeption verhelfen sollte.
Allerdings verbot schon - im Unterschied zum Schiller-Verein - Goethes Werk und Leben eine allzuenge nationale Bindung. Unter den ersten Mitgliedern des Wiener Goethe-Vereins waren Dichter und Schiriftsteller, Journalisten und Politiker, Wissenschaftler und Diplomaten, Künstler und Theaterintendanten. Diese Mitgliedschaft bot einen reprasentativen Querschnitt durch die sog. 2. Wiener Gesellschaft, also durch das wirtschaftlich und bildungsmäßig dominierende Bürgertum liberaler Prägung, das die österreichische intellektuelle Gesellschaft so entscheidend prägte. Unter Goethes Bild versammelte sich eine Gesellschaft unterschiedlicher politischer und ethnischer Prägung, vereinnahmt aber durch die Hinwendung zu der Dichterpersonlichkeit, die zugleich die Utopie einer deutschen und weltliterarischen Bildung verkörperte.
Mit diesem Satz beginnt Goethe auf der Schweizer Reise des Jahres 1797 seine "Beschreibung des Rheinfalls bei Schaffhausen, der ihn, wie man weiss, ausserordentlich fasziniert und beschäftigt hat, und nicht nur ihn. "Kein Wunder", heisst es in der apologetisch-ausführlichen Einleitung, "kein Wunder, dass Künstler und Dilettanten in einem Fache sich üben, dem das Publikum geneigt ist." Goethe betont auch angesichts der schieren Unbeschreiblichkeit dieses Wassersturzes, dass es sich nachfolgend um eine "solche Übung" handle, und "freilich nur skizzenhaft", das will heissen: vor solchem Anlass wird auch der Künstler wohl Dilettant. Und er repetiert beteuernd: jenes Naturphänomen werde noch oft genug gemalt und beschrieben werden, jeden Beschauer in Erstaunen setzen, manchen zu einem Versuch reizen, seine Anschauung, seine Empfindung mitzuteilen, "und von keinem wird es fixiert, noch weniger erschöpft werden".
Dann kann man verfolgen, wie der Dichter und Betrachter Goethe das Schauspiel aus wechselnder Perspektive in aphoristischen Sätzen festhalten will. Einen ganzen Tag lang nähert er sich empirisch von allen Seiten der schäumenden Attraktion, teilt jeweils mit, wo er steht und geht, was von da und dort aus zu sehen ist, und welche Wirkung es macht. "Teile der sinnlichen Erscheinung des Rheinfalls, vom hölzernen Vorbau gesehen. Felsen, in der Mitte stehende, von dem höhern Wasser ausgeschliffene, gegen die das Wasser herabschiesst. Ihr Widerstand, einer oben, der andere unten, werden völlig überströmt. Schnelle Wellen, Lakengischt im Sturz, Gischt unten im Kessel, siedende Strudel im Kessel." Man sieht, er versucht das Äusserste an genauer Notiz; zugleich empfindet er die Begrenztheit dieser Erfassensweise; und wie er zuvor schon an Ossian gedacht hat ("Liebe zum Nebel bei heftigen innern Empfindungen"), lässt er sich Schillers Vers jetzt aus dem "Taucher" einfallen - "Es wallet und-siedet und brauset und zischt" -, der sich, wie er Schiller am 25. September mitteilt, hier trefflich legitimiert habe.
"Erregte Ideen über die Gewalt des Sturzes. Unerschöpfbarkeit als wie ein Unnachlassen der Kraft. Zerstörung, Bleiben, Dauern, Bewegung, unmittelbare Ruhe nach dem Fall", fährt er mit seinen Beobachtungen fort, fügt Reflexionen hinzu. Kraft, Gewalt, Massen, Bewegung - das "Erregte Ideen über die Gewalt des Sturzes. Unerschöpfbarkeit als wie ein Unnachlassen der Kraft. Zerstörung, Bleiben, Dauern, Bewegung, unmittelbare Ruhe nach dem Fall' färt er mit seinen Beobachtungen fort, fügt Reflexionen hinzu. Kraft, Gewalt, Massen, Bewegung- das sind die dynamischen Faktoren; für das Zuviel an Eindruck setzt er mehrmals, weder genau noch bildhaft, den Begriff des "Ungeheuren". Aber wer kennte nicht sprachliche Ohnmacht, wo Grossartigkeit für sich selbst spricht; gar wenn sie laut ist.
Goethe greift nach dem Meer, um des Ansturms Herr zu bleiben für seine Person, das dichterische Element soll zum drittenmal die beinah überwältigte Ratio unterstützen:
"Das Meer gebiert Meer. Wenn man sich die Quellen des Ozeans dichten wollte, so müsste man sie so darstellen", empfindet er. "Darstellen", sagt er jetzt, und "dichten". Darstellung ist der Klopstocksche Begriff für Dichten. Bisher war es ihm um die Beschreibung gegangen.
Immer von neuem kehrt er zu seinem gewaltigen Objekt zurück."Ich trat wieder auf die Bühne an den Sturz heran und fühlte, dass der vorige Eindruck schon verwischt war; denn es schien gewaltsamer als vorher zu stürmen, wobei ich zu bemerken hatte, wie schnell die Nerve in ihren alten Zustand sich wieder herstellt. Der Regenbogen erschien seiner grössten Schönheit; er stand mit seinem ruhigen Fuss in dem ungeheuren Gischt und Schaum, der, indem er ihn gewaltsam zu zerstören droht, ihn jeden Augenblick neu hervorbringen muss." Er wechselt wieder den Standort, erblickt den Rheinfall "von vorn, wo er fasslich ist, bleibt noch herrlich", heisst es, "man kann ihn auch schön nennen". Fasslich, herrlich, schön - das ist die klassische Formel in nuce; was darüber hinausgeht, das Ungeheure.
Besonders studiert er das Spiel der Farben. Dazwischengeschoben werden Betrachtungen über Gestein, umgebende Landschaft, Wirtshaus, Begegnungen - all das ein Atemholen, ein kurzes Wegsehen, schon lockt das stürzende Schauspiel wieder, "es ist ein herrlicher Anblick, aber man fühlt wohl, dass man keinen Kampf mit diesem Ungeheuer bestehen kann", vermerkt er jetzt mit einiger Resignation und distanziert sich erneut.
Ein letztes Mal lässt sich Goethe des Abends auf das "ungeheure Gewühle" ein, dessen "Farbenspiel herrlich" war bei sinkender Sonne, in der alle Bewegungen "schneller, wilder und sprühender" zu werden schienen. "Leichte Windstösse kräuselten lebhafter die Säume des stürzenden Schaumes, Dunst schien mit Dunst gewaltsamer zu kämpfen, und indem die ungeheure Erscheinung immer sich selbst gleich blieb, fürchtete der Zuschauer dem Übermass zu unterliegen und erwartete als Mensch jeden Augenblick eine Katastrophe."
Anderntags in der Frühe zog Goethe weiter. Dem "ungeheuren Gewühle" empirisch-beschreibend nahezukommen, war ein Versuch geblieben; der endete düster. Noch später hat ihn der Rheinfall nicht losgelassen. In seiner Dichtung kommt er nicht vor.
Der Miniaturist und das Monumentale
Jahrzehnte nach Goethe gelangt ein anderer Dichter zum Rheinfall: Eduard Mörike . Auch er auf Reisen ein emsig Notierender: "Ich machte mir von Ort zu Ort kurze Notizen mit Bleistift, um alles ordentlich in ein paar Briefen auszuführen, sobald wir nur ein bisschen stille sässen", schreibt er am 25. September 1840 aus Steckborn am Untersee den Seinen. "Wir kommen heute von Schaffhausen, und ich bin noch ganz voll von der Herrlichkeit des Rheinfalls, den wir den gestrigen Tag vom Frühstück bis zum Sonnenuntergang genossen haben. Wie tausendmal hab ich Euch nicht herbeigewünscht...". Auch Mörike also stellt sich einen ganzen Tag lang dem brausenden Monument. Was doch verwunderlich ist bei dem in die Miniatur Verliebten, und ins Idyll, das ihm genügend abgründig war, voll von poetischem Glanz und Schauer. Wie stand nun er der schönen Gewaltsamkeit gegenüber? Mit "Herrlichkeit" liesse sich, nicht erst seit Rilke, vieles meinen, auch überschweigen. Es ist ja die Gegend, aus der die Maria Meyer stammte, die "Peregrina", an der er, der Erschütterte, sagt man, zum Dichter geworden sei ("...In diese Nacht des Blickes mich zu tauchen- "). Im übrigen gibt es, auch späterhin, kein briefliches Wort mehr darüber; Mörike folgt in seinen Mitteilungen den nächsten Stationen der Reise, kleineren, ihm wohl gemässeren. Gleich Hölderlin, wenn auch auf andere Weise, verrät er in Briefen sich nicht'. Man liest von einem "Weib, das neben einer Ziege auf einem Raine strickend sass", vom verlassenen Boot, das angebunden am Pflock im Wellenschlag ächzte, hört von letzten Vogelstimmen, die im Weidicht verklangen, und überdies, er habe mit seinem Bruder "eine gute Portion halbfeuchten Rheinsand" in seinen Mantelzipfel geschöpft, um sämtliche Schreibwerkzeuge daheim zu füllen. "Der Sand, den ich streute, er blinket wie Gold" - da wäre sie wieder ausgemacht, die versponnene Mörikesche Abseitigkeit, die wegstellt, was ihr zu wuchtig erscheint und der lyrischen Alchimie sich verschreibt.
Welche Verkennung! Fünf Jahre lang hat der Dichter den Rheinfall sich selbst überlassen. 1846 erscheint die "Idylle am Bodensee" und, wie nebenbei, entsteht das unvermutete Gedicht:
Am Rheinfall
von Eduard Mörike
Halte dein Herz, o Wanderer, fest in gewaltigen Händen!
Mir entstürzte vor Lust zitternd das meinige fast.
Rastlos donnernde Massen auf donnernde Massen geworfen,
Ohr und Auge wohin retten sie sich im Tumult?
Wahrlich, den eigenen Wutschrei hörete nicht der Gigant hier,
Läg' er, vom Himmel gestürzt, unten am Felsen gekrümmt!
Rosse der Götter, im Schwung, eins über dem Rücken des andern,
Stürmen herunter und streun silberne Mähnen umher;
Herrliche Leiber, unzählbare, folgen sich, nimmer dieselben,
Ewig dieselbigen - wer wartet das Ende wohl aus?
Angst umzieht dir den Busen mit eins und, wie du es denkest,
Über das Haupt stürzt dir krachend das Himmelgewölb'!
Der zu lesen versteht, wird sich solcher Bewältigung jenes Natureindrucks nicht erwehren können. In ganzen zwölf Zeilen hält er das Immense Ungefesselte auf - und dies im klassischen Versmass, in Hexametern und Pentametern, sechs Distichen also. Selbst Goethe, wär es dazu gekommen, hätte sich wohl des Zwangs der Metren befreit und - wie im "Prometheus" oder in "Mahomets Gesang" - zu eigenrhythmischen Versen gegriffen angesichts des dynamischen Vorgangs. Mörike steht auch hier Hölderlin näher, wenngleich er mit keiner Zeile, mit keinem Wort sich selbst verlässt. Mit seinem genialen Griff zum klassischen Mass legt er sich und zugleich dem Ereignis Fesseln an, anders gesagt: er hält kein Gefäss vor, sondern schafft Widerstand. Das Strömende und Stürzende der Sprache stösst und staut sich am festen Element der Metren, ihrer Hebungen und Senkungen, ihrer gefügebildenden Akzente, klaffenden Zäsuren, überwindet sie scheinbar, verwandelt sie auch, solcher Zeilensturz geht nicht ab, ohne dass Silbe auf Silbe klangvoll aufglänzt. So entsteht Form. Reine Darstellung, nicht Beschreibung. Daraus erklärt sich über des Dichters Wurf hinaus die erstaunliche Eigenleistung dieses Gedichts, seine poetische Dynamik weckt die klassische Form zum Leben, und diese schafft Festigkeit dem unaufhörlich Entstürzenden.
Schon das einleitende Distichon ist bezwingend; dem Wanderer, dem Ortlosen, den es hier treffen kann, ehe, er sich's versieht, wird der warnende Rat, sein Herz festzuhalten "in gewaltigen Händen" - ein "treffendes", aber nicht realisierbares Bild, das so im voraus Bangheit erzeugt; und wer vermöchte einer Warnung ruhig zu folgen, wenn er nicht weiss, was ihm droht? Der zweite Vers unterstreicht die Gefährdung, stellt dem Festhalten,des Herzens dicht das schiere Entstürzen gegenüber; dass es "vor Lust" geschehen könne, mildert nichts, bewirkt im Gegenteil den ersten Schock einer orgiastischen Abgründigkeit, der im folgenden jäh überbraust wird.
Übrigens dürfte in dieser zweiten Zeile Mörikes unmittelbares Erlebnis anklingen; ihr abschliessendes Wörtchen "fast", gewollt oder nicht - das Prinzip tritt noch zweimal auf - ist durch Reimklang direkt mit dem nun einsetzenden Spectaculum verbunden, und stösst sich zugleich von ihm ab ("fast" /"Rastlos"); der Dichter bewahrt sich vor der Macht der Erscheinung durchs Wort. Er bannt. Jetzt dieser die Wirklichkeit packende dritteVers, elementarer Wurf in sich selber, mit den zwingenden Vokalisen, die sich wiederholt überstürzen, dem Bild entsprechend, Himmel und Erde enthaltend bereits durch Umschreibung - von Wasser ist nirgends die Rede, kein Tropfen zu wenig, die Fallkraft der Zeilen hat eingesetzt mit der zweiten, schlagend aufs Schauspiel übertragen In der dritten, die standhaften Metren helfen Ohr und Auge den Tumult überstehen, ihm wird gesteuert. Die Doppelbetonungen in der Mitte der (deutschen) Pentameter bieten Halt, vom Dichter wirksam genutzt; das erhöht nur die Kraft des Gefälles; und der Wutsehrei des Giganten, eine Anspielung erst, im Konjunktiv, erhöht das Lärmen der "donnernden Massen" bedrohlich, erbringt mit raffinierter und konziser Vollendung des "Schein-Bilds" die Wendung ins Mythologische:
Wahrlich, den eigenen Wutschrei hörete nicht der Gigant hier,
Lüg' er, vom Himmel gestürzt, unten am Felsen gekrümmt!
Man höre - durchs Getöse - die Musik des Gedichts; die orgelnden o- und a- Klänge - es sind, wenn man will, die poetischen Dominanten - fallen fortwährend in die tragende Tonika der Umlaute ä, ö, ü, die das Ganze bis zur letzten Silbe durchtönen. Überall sind dionysische Verben am Werk, gegen die apollinischen Masse geschleudert, ein dauerndes Stürzen und Stürmen. Jetzt die weitere Transformation: die donnernden Massen werden zu Götterrossen, die dritte Zeile kehrt in der siebten exakt verwandelt wieder:
Rosse der Götter, im Schwung, eins über dem Rücken des andern
- die "silbernen Mähnen", als visuell vollziehbare Ergänzung, lässt sich der Dichter nicht entgehen: indessen verdinglicht er noch weiter:
Herrliche Leiber, unzählbare, folgen sich
- insistiert er, fast dreist, bezwingend aber; die metaphorische Verwandlung hat inzwischen, sich selbst verwirklichend, die Naturwirklichkeit weit überstiegen. Massen, Rosse, Rücken, Leiber - das Wandelbare in der Dauer ist durchgeführt, kühn, und wird in paradoxaler Formel sich selbst überlassen:
nimmer dieselben, Ewig dieselbigen -
einer Formel, die in ihrer mozartischen Art der Abwandlung erst wirkt und sich rhythmisch überzeugend manifestiert. Dem folgt jene scheinbar harmlose Stelle als Halbschluss.
wer wartet das Ende wohl aus?
eine typische Mörikestelle, arglos-fragend und nicht zu beantworten, zwiebödig, weich, mit dem heimlich-teuflischen Wörtchen "wohl", man muss sich vorsehen. "Ende" sagt sie, "Ewigkeit" meint sie, der atemholende Duktus ist Ausklang und doch nicht, ermöglicht Abkehr, scheint es, altes Privileg des Wanderers. Aber es steht ihm nicht frei, nicht mehr; die vor dem dröhnenden Vorgang beinah verschüttete Bangheit taucht wieder auf, in ihm jetzt aber, dem Ortlosen, eingangs gewarnt. Der Dichter hat die geformte Wucht seiner eigenen Erschütterung fast hinterrücks auf ihn, ihn umzingelnd, übertragen:
Angst umzieht dir den Busen mit eins
- mit eins, das heisst jäh, und heisst jäh gekettet an diesen enormen Einklang; dicht gefolgt von der zweiten Plötzlichkeit, scharf akzentuiert, zu spät für Besinnung, für Bewahrung vorm Fatum (sogar der Pentameter ist nicht mehr heil):
und, wie du es denkest,
Über das Haupt stürzt dir krachend das Himmelgewölb'!
Eine irreversible Heraufbeschwörung in des Gedichts Realität, zu der die elementare Naturwirklichkeit nur eben ein grosser Vorwurf war. Das Gewoge, volutenhaft, wölbt sich aus, überstürzt sein Opfer mit der furchtbar gesteigerten "Unglaublichkeit" des letzten Worts. Chaotisches Gefälle, unversehens nach oben getürmt, dichterisch bezwungen und fortgeschleudert. Das Ganze erscheint jetzt angelegt auf diese visionäre Schlusszeile hin, mit ihr, der unheilbewirkenden, katastrophalen, gegen welche die Eingangszeile nachträglich wie dämonischer Hohn sich anhört, steht das Gedicht. Die magisch-abgründige Bindung beider Zeilen wird durch die fünffache Alliteration auch klanglich verankert.
Ein Beben durchschauert dieses mit so wenigen Versen auskommende Werk, das, auch ungeachtet des mythologischen Bezugs, kosmische Schöpfungsvorgänge evoziert. Nicht fertig wird man mit der Beschreibung (!) dieses Gedichts, darin das Elementare beschworen wurde, nicht etwa, damit es menschlich werde...
Richtig verstanden: Nicht Dichter und Dichter standen sich gegenüber auf dieser Seite, wohl aber dichterische Darstellung und Beschreibung, angesichts einer die Sprache leicht entwaffnenden Monumentalität. Eine Handreichung ist dennoch im Spiel. ".. indem die ungeheure Erscheinung immer sich selbst gleich blieb, fürchtete der Zuschauer dem Übermass zu unterliegen und erwartete als Mensch jeden Augenblick eine Katastrophe." Mörike hat jenen letzten Eindruck, mit welchem Goethe den Rheinfall verliess, poetisch vollzogen.
Dieser Text von Dürrson ist am 5. August 1967 in der Sonntagsbeilage der Stuttgarter Zeitung erschienen. Der Text ist im Buch: Werner Dürrson, "Stimmen aus der Gutenberg Galaxis", Elster Verlag, 1997 enthalten.
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Lo siento, no sabía decirlo de forma más breve, y la profundidad de tu pregunta requería una respuesta detallada.
2006-08-18 16:28:20
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answer #2
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answered by Vaios 3
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